Die Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz rufen dazu auf, am 25. September 2016 ein NEIN zum Nachrichtendienstgesetz (NDG) in die Urne zu legen, weil die vorgesehene Massenüberwachung massiv zu weit geht, in schwerwiegender Weise in Grundrechte eingreift, kaum einer Kontrolle untersteht, das Gesetzmässigkeitsprinzip verletzt und das Gesetz nicht bürgerverständlich ist.

 

Invasive Massnahmen und Massenüberwachung

Das NDG sieht einen erheblichen Ausbau der möglichen Überwachungsmassnahmen vor. Die wichtigste Neuerung besteht darin, dass der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) nicht nur im öffentlichen, sondern auch im privaten Raum überwachen können soll. So soll er z.B. in Zukunft Wohnungen abhören, Ortungsgeräte verwenden und in Computersysteme eindringen (Art. 26 Abs. 1 NDG) sowie das Glasfasernetz (Art. 39 ff. NDG) überwachen können. Diese neuen Massnahmen sind sehr invasiv.

Mittels Einführung der Kabelaufklärung (Art. 39 NDG), die Ähnlichkeiten mit dem NSA-Geheimdienstprogramm «Tempora» aufweist, soll eine Massenüberwachung in völlig neuer Dimension ihre rechtsstaatliche Legitimation finden: Dabei geht es nicht mehr – wie bisher im Strafverfahren – um eine gezielte temporäre Überwachung, sondern sämtliche Mails, Nachrichten WhatsApp-Nachrichten, IP-Telefonie, Suchanfragen auf Google etc., deren Übertragungen über Glasfaserkabelnetz erfolgen, werden nach bestimmten, vorgegebenen Suchkriterien abgesucht, triagiert und der Auswertung zugeführt. Das Ausmass der Überwachung durch «Tempora» in den USA ist enorm: Es umfasst den Internetverkehr von zwei Milliarden Nutzer_innen und sammelt jeden einzelnen Tag 39 Milliarden einzelne Datenpakete. Die Auswertung einer so grossen Datenmenge bindet auch extrem viele Ressourcen.
Entgegen der Darlegung des Bundesrates sind von der Kabelaufklärung nicht nur Personen im Ausland betroffen, sondern auch die Schweizer Bevölkerung: Der größte Teil der Internetnutzung der Schweizer Bevölkerung erfolgt zu 80 bis 95 % über ausländische Server oder Leitungen, oft liegen die Server im Ausland. Zum Beispiel werden alle Google- und GMX-Mails über ausländische Server verschickt. Diese Anknüpfungspunkte mit dem Ausland reichen entsprechend dem Wortlaut der Art. 39 ff. NDG für eine Anordnung der Kabelaufklärung völlig aus.
Zudem wird sich die Beschränkung auf ausländischen Internetverkehr technisch nicht umsetzen lassen, da man dem gescannten Datenverkehr nicht ansieht, ob es sich um rein inländische Kommunikation handelt.

Erhebliche Erweiterung des Aufgabenbereichs des Nachrichtendienstes

Dieser Ausbau der Überwachungsmassnahmen geht einher mit einer erheblichen Erweiterung des Aufgabenbereichs des NDB. Die Aufgabe des NDB bestand bisher darin, frühzeitig Gefährdungen, die von Terrorismus, verbotenem Nachrichtendienst, gewalttätigem Extremismus, von Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen und verbotenem Handel mit Waffen und radioaktiven Materialien und verbotenem Technologietransfer ausging, zu erkennen (Art. 2 Abs. 1 und 2 BWIS). Auch unter dem NDG soll der NDB zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung dieser Bedrohungslagen tätig werden können. Neu treten aber zahlreiche weitere Gefährdungslagen hinzu, die den Aufgabenbereich des NDB erweitern (Art. 6 und 3 NDG). So soll der NDB beispielsweise zur Wahrung der Handlungsfähigkeit der Schweiz und zur Feststellung, Beobachtung und Beurteilung von sicherheitspolitischen Vorgängen im Ausland sowie zur Wahrung wesentlicher Landesinteressen tätig werden können (Art. 6 und 3 NDG). Diese unbestimmt formulierten Aufgabenbereiche können beliebig weit ausgelegt werden.
Insgesamt ist dies ein zu weiter Aufgabenbereich für einen Staatsschutz, der nun Aufgaben des Bundesrats, der Strafverfolgungsorgane und sonstiger Verwaltungsaufgaben übernehmen soll. Es fehlt jegliche Zweckbindung und Zweckbegrenzung.

Das NDG verletzt das Gesetzmässigkeitsprinzip

Jegliches staatliche Handeln und somit auch geheime staatliche Überwachung muss auf einer genau bestimmten gesetzlichen Grundlage beruhen. Dies verlangt das Gesetzmässigkeitsprinzip. Es wird behauptet, das NDG trage zur Verwirklichung dieses Prinzips bei, da es einen klaren rechtlichen Rahmen setze und die Anwendung von geheimen Überwachungsmassnahmen eng beschränke (siehe Botschaft zum NDG oder Erläuterungen des Bundesrates zur Volksabstimmung vom 25.09.2016). Dies entspricht nicht der Wahrheit. Das NDG beschränkt die Möglichkeiten der Überwachung praktisch gar nicht und der Anwendungsbereich ist, wie oben gesehen, neu sehr unbestimmt formuliert. So wird das Gesetzmässigkeitsprinzip ausgehebelt.

Das NDG ist nicht bürgerverständlich

Das NDG ist verwirrend strukturiert, unübersichtlich und nicht bürgerverständlich.
Es ist deshalb fast nicht nachvollziehbar, wann der NDB geheime Überwachungsmassnahmen einsetzen darf.

Hierzu ein Beispiel: Damit der NDB den Privatraum überwachen kann, muss gemäss Art. 26 NDG eine „konkrete Bedrohung“ vorliegen oder die Überwachung muss dem Schutz „weiterer wesentlicher Landesinteressen“ dienen. Zur Definition der „konkreten Bedrohung“ verweist Art. 26 auf Art. 19 Abs. 2 NDG. Art. 19 NDG regelt aber gemäss Marginalie eigentlich die Auskunftspflicht. Zur Definition „weiterer wesentlicher Landesinteressen“ verweist Art. 26 NDG wiederum in einen ganz anderen Teil des Gesetzes, nämlich auf Art. 3 NDG. Dieser zählt zwar einige wesentliche Landesinteressen auf, ist aber eigentlich als Ausnahmebestimmung konzipiert und wird gleichzeitig von Art. 26 NDG als Grundvoraussetzung herangezogen, um Überwachungsmassnahmen im Privatraum zu erlauben. So müssten also drei Artikel, die sich an völlig unterschiedlichen Stellen des Gesetze befinden, konsultiert werden, nur um zu wissen, ob der NDB jemanden überwachen kann.

Eine fast schrankenlose Überwachung wird erlaubt

Das NDG beschränkt die Kompetenzen des NDB nicht. Die Regelung davon, wann geheim überwacht werden kann, erfolgt unter Verweis auf Art. 3, 6 und 19 NDG. Diese Bestimmungen enthalten eine Vielzahl höchst unbestimmter Rechtsbegriffe (siehe auch Botschaft zum NDG, S. 2229).

Auch hierzu einige Beispiele: Der NDB soll eine Person überwachen können, wenn eine konkrete Bedrohung für eine „kritische Infrastruktur“ besteht (Art. 6 Abs. 1 lit. a Ziff. 4, Art. 19 Abs. 2 lit. d NDG). Was darunter zu verstehen ist, ist unklar. Zur Definition dieses Begriffs ist der Botschaft lediglich zu entnehmen, dass dieser „umfassend zu verstehen und (...) auch Infrastrukturen wichtiger internationaler Organisationen in der Schweiz ein[schliesst]“.  Ferner kann der NDB z.B. zur „Wahrung der Handlungsfähigkeit“ (Art. 6 Abs. 1 lit. d NDG) der Schweiz tätig werden. Auch dieser Begriff ist nicht definiert und somit (unendlich) weit. Auch die Begriffe „Terrorismus“ und „Extremismus“ sind nirgends definiert und eine internationale Definition gibt es auch keine. Die von Art. 3 NDG genannten „wesentlichen Landesinteressen“, zum Schutz derer der NDB überwachen kann, sind so weit gefasst, dass der NDB Personen sogar aus Gründen überwachen kann, die nichts mit der Wahrung der Sicherheit der Bevölkerung der Schweiz zu tun haben.
Das NDG beschränkt die Kompetenzen nicht eng, im Gegenteil: Den Möglichkeiten des NDB sind kaum Grenzen gesetzt, es könnten praktisch alle gestützt auf das NDG überwacht werden.

Die gerichtliche Überprüfung verkommt zur Farce

Die Aufsicht über die Aktivitäten des Nachrichtendienstes ist sehr schwach. Eine gerichtliche Überprüfung der genehmigungspflichtigen Massnahmen – für die nicht einmal ein konkreter Tatverdacht vorliegen muss – findet ohne die notwendigen Fakten und nur aufgrund des Vorbringens des Nachrichtendienstes statt. Der Nachrichtendienst muss keine Beweise vorbringen, sondern seinen Antrag nur geschickt genug begründen, um eine Massnahme bewilligt zu erhalten. Eine solche richterliche Überprüfung verkommt damit zu einer Scheinkontrolle.

Auch fehlt im Gesetz ein wirksames Einsichtsrecht der betroffenen Personen. Die Einschränkungen des Einsichtsrechts (Art. 63 ff. NDG) sind so gross, dass es kaum je Anwendung finden wird. Dies führt dazu, dass man sich gar nicht gegen unverhältnismässige Eingriffe in die Privatsphäre wehren kann, wenn man nicht einmal weiss, welche Daten gesammelt wurden. Dies verletzt die Rechtsweggarantie und das Recht auf eine wirksame Beschwerde.

Rechtsstaatlicher Paradigmenwechsel

Erstmals in der Geschichte der modernen Schweiz soll ein faktisch kaum kontrollierbarer Nachrichtendienst mehr Kompetenzen erhalten als die Strafverfolgungsbehörden. Zudem sollen die vom Nachrichtendienst beschafften Daten – unter Umgehung der strengeren Bestimmungen der StPO – auch für Strafverfolgungszwecke genutzt werden (vgl. z.B. Art. 60 NDG). Solche Ansätze sind mit einem demokratischen Rechtsstaat kaum vereinbar.

Massive Eingriffe in die Grund- und Menschenrechte

Insgesamt werden durch die dargestellten invasiven Massnahmen schwerste Eingriffe in zahlreiche Grundrechte der Bürger_innen nach der Bundesverfassung (BV) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) für Zwecke erlaubt, die in keinem angemessenen Verhältnis zur Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung stehen. Damit erweisen sich diese neuen Befugnisse als unverhältnismässig und folglich rechtswidrig. Mangelnde Transparenz, lückenhafte Informations- und Beschwerderechte der Betroffenen, sobald (irgendein) Auslandsbezug gegeben ist, verstärken diese Defizite. Betroffen sind nicht nur Menschen im Ausland, sondern – da die Umgehungsmöglichkeiten immens sind – die gesamte Schweizer Bevölkerung.

pdfStellungnahme_NDG.pdf