Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Anpassung der Wartefrist beim Familiennachzug von vorläufig Aufgenommenen)
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1 Einleitung
Vorab ist darauf hinzuweisen, dass sich die DJS zusammen mit den genannten Organisationen grundsätzlich für die Abschaffung des Instituts der vorläufigen Aufnahme und deren Ersatz durch einen neuen Status aussprechen. Dieser ist so auszugestalten, dass allen Personen des Asylbereichs dieselbe privilegierte Rechtsstellung asylberechtigter Personen zukommt.[1]
Die vorläufige Aufnahme ist weder Bewilligung noch Status, sondern als Ersatzmassnahme zum Wegweisungsvollzug ausgestattet; dies, obwohl sie praktisch in allen Fällen zu einem langfristigen Daueraufenthalt unter prekären Bedingungen führt. Betroffen sind meist besonders verletzliche Personen, die vor Gewalt und Bürgerkriegen, menschenunwürdigen Lebensbedingungen und Umweltkatastrophen oder fehlenden Behandlungsmöglichkeiten bei schweren Krankheiten geflohen sind. Nicht nur sind die Chancen vorläufig aufgenommener Personen auf dem Arbeitsmarkt wesentlich schlechter als jene von Personen mit Aufenthaltsbewilligung, sie dürfen zudem kaum ins Ausland reisen, nur erschwert den Kanton wechseln, erhalten bei Bedürftigkeit nur einen Bruchteil der finanziellen Unterstützung von Personen mit ausländerrechtlicher Bewilligung und sind insbesondere was den Familiennachzug betrifft – im Vergleich zu allen übrigen Personen mit ausländerrechtlicher Bewilligung deutlich schlechter gestellt. So müssen sie zurzeit eine mehrjährige Frist für die Familienzusammenführung abwarten, was in Verbindung mit dem faktischen Reiseverbot zu einer jahrelangen Trennung von der Kernfamilie führt.
Die DJS stehen daher gemeinsam mit anderen Organisationen für die Gleichstellung vorläufig aufgenommener Personen mit dem Rechtsstatus von anerkannten Flüchtlingen, denen Asyl gewährt worden ist, ein.
Die nun angestrebte Änderung von Art. 85c AIG beruht auf dem von den Art. 13 BV und Art. 8 Ziffer 1 EMRK geschützten Grundrecht auf ein ungestörtes Privat- und Familienleben, welches allen in der Schweiz lebenden Personen zusteht. Die DJS lehnen jegliche Beschränkung des Rechts auf Achtung des Familienlebens ab, mindestens aber müssen die Voraussetzungen für den Familiennachzug durch vorläufig Aufgenommene jenen Personen mit Asyl bzw. einer migrationsrechtlichen Aufenthaltsbewilligung angeglichen werden.
2 Zur Herabsetzung der Wartefrist beim Familiennachzug durch vorläufig aufgenommene Personen
Die DJS begrüssen die Herabsetzung der Wartefrist beim Familiennachzug durch vorläufig aufgenommene Personen grundsätzlich. Die geplante Gesetzesänderung verfehlt jedoch die Anpassung der geltenden Gesetzgebung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall M.A. gg. Dänemark, wonach – so der Bundesrat – eine zweijährige (statt wie bisher eine dreijährige, vgl. Art. 85c Abs. 1 AIG) Wartefrist für den Familiennachzug durch vorläufig aufgenommene Personen EMRK-konform sein soll. Diese Sichtweise entspricht indes einer verkürzten, mithin falschen Interpretation des EGMR-Urteils. Zudem wird bei dieser Betrachtungsweise ausser Acht gelassen, dass – neben der Wartefrist – an den Familiennachzug durch Menschen mit einer vorläufigen Aufnahme weitere hohe Anforderungen gestellt werden, die insgesamt zu einer Aushöhlung des vorgenannten Rechts auf Familienleben führt.
Zunächst bleibt im Gesetzesvorschlag unberücksichtigt, dass der EGMR in seinem Urteil eine klare Differenzierung zwischen Personen mit und Personen ohne Flüchtlingseigenschaft trifft. lm Sachverhalt vor dem EGMR ging es um eine Person, die in Dänemark einen (temporären Schutzstatus) erhalten hatte ohne Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ausserdem waren keine Kinder involviert. Auch lässt der Gesetzesvorschlag eine EMRK-konforme Verankerung der stets notwendigen Verhältnismässigkeitsprüfung vermissen. Wie nach folgend ausführlich dargelegt wird, sind alle diese Umstände bei der Umsetzung des Urteils aber vorrangig zu berücksichtigen. Zusammengefasst fordern die DJS eine differenzierte Beurteilung von Gesuchen von vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen (2.1), von Gesuchen wo Kinder involviert sind (2.2) und eine Verhältnismässigkeitsprüfung nicht erst «ab» einer Wartefrist von zwei Jahren, sondern in jedem Fall (2.3).
2.1 Differenzierung zischen vorläufig aufgenommenen Personen mit und ohne Flüchtlingseigenschaft
In der Schweiz können sowohl für Personen mit zuerkannter Flüchtlingseigenschaft als auch für Personen, in deren Asylverfahren die Flüchtlingseigenschaft verneint wurde, die vorläufige Aufnahme angeordnet werden. Es gibt keinen sachlichen Grund, Flüchtlinge, die kein Asyl erhalten haben aber vorläufig aufgenommen wurden, betreffend Familiennachzug schlechter zu stellen als Flüchtlinge mit Asyl. Beide leben unfreiwillig getrennt und können ihr Familienleben infolge der flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung anerkanntermassen nur in der Schweiz leben.
Weder das Bundesverwaltungsgericht (in seinem Grundsatzurteil F-2739/2022 vom 24. November 2022) noch der Bundesrat beachten diese vom EGMR explizit gemachte Unterscheidung von Menschen mit und ohne Flüchtlingseigenschaft. Der EGMR hat in vergangenen Urteilen immer wieder festgehalten, dass anerkannte Flüchtlinge ein Recht auf grosszügigere Familiennachzugsvoraussetzungen haben als andere migrierte Personen und dass ihre Familiennachzugsverfahren «flexibel, prompt und effizient» behandelt werden müssen.[2] Auch das BVGer hielt in früheren Entscheiden fest, dass «bei Familiennachzugsgesuchen von (vorläufig aufgenommenen) Flüchtlingen betreffend deren Ehegatten und minderjährigen Kindern ein faktisches Aufenthaltsrecht anzunehmen und die Dauer des Aufenthalts erst in der Güterabwägung zu berücksichtigen» sei.[3] Eine – auch zweijährige – Wartefrist läuft dieser Erwägung des BVGer klar zuwider, zumal sie die Dauer des Aufenthalts zur Voraussetzung für den Familiennachzug macht, statt zu einem Faktor in der Güterabwägung.
Will der Bundesrat die EGMR-Rechtsprechung tatsächlich umsetzen, hat er sich an dem Urteil des Gerichtshofes zu orientieren und entsprechend mindestens bei Familiennachzügen von vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen auf die Anordnung einer Wartefrist zu verzichten. Dafür spricht nicht zuletzt ein Blick über die Landesgrenzen: ln der EU sind Wartefristen für Flüchtlinge gänzlich verboten.[4]
Ohnehin hätte die Gesetzgebung die Chance der Gesetzesanpassung nutzen und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge in Bezug auf den Familiennachzug endlich mit Flüchtlingen mit Asyl gleichstellen können (dies auch im Lichte der Nachzugsbestimmungen für Personen mit vorübergehendem Schutz, die weitgehend jenen in Art. 51 AsylG entsprechen, vgl. Art. 71 AsylG). Der stete Verweis der Behörden auf Art.74 Abs.5 VZAE, wonach die besondere Situation von vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen beim Entscheid über die Gewährung des Familiennachzugs zu berücksichtigen wird, führt in der Praxis kaum je zu einer Vorzugsbehandlung und wird den Vorgaben des EGMR nicht gerecht: So hielt der EGMR jüngst erneut fest, dass auf europäischer und internationaler Ebene Konsens darüber herrsche, dass Flüchtlinge in den Genuss eines günstigeren Familiennachzugsverfahrens kommen müssten als andere Ausländer*innen. Aufgrund dieses Konsenses sei der staatliche Ermessensspielraum bei der Prüfung von Art. 8 EMRK stark eingeschränkt.[5]
2.2 Keine Wartefrist, wenn minderjährige Kinder involviert sind
Des Weiteren waren im dem Urteil M.A. gg. Dänemark zugrundeliegenden Sachverhalt keine minderjährigen Kinder involviert. Sind Kinder involviert, müssen Entscheidungsprozesse in Familiennachzugsverfahren gemäss genanntem EGMR-Urteil unter Berücksichtigung des Kindswohls «flexibel, prompt und effizient» sein (Ziff. 139) und zwar selbst, wenn es sich bei den nachziehenden Personen nicht um anerkannte Flüchtlinge handelt. Dies legt nahe, dass in Fällen, in denen minderjährige Kinder involviert sind, keine Wartefrist vorausgesetzt werden darf, was ebenfalls im Gesetzesentwurf festgehalten werden muss.
2.3 Gemäss EGMR immer Verhältnismässigkeitsprüfung nötig
Ferner sagt der EGMR, dass immer eine Verhältnismässigkeitsprüfung anhand der im Urteil aufgeführten Faktoren vorgenommen werden muss (vgl. Ziff. 132 f.)[6] und nicht erst – wie vom Bundesrat in seinem erläuternden Bericht suggeriert – «ab» einer Wartefrist von zwei Jahren. Diese Annahme basiert erneut auf einer Fehlinterpretation des EGMR-Urteils durch das Bundesverwaltungsgericht und den Bundesrat. So stellt der EGMR in Bezug auf die Frage der Wartezeit fest, dass den Staaten zwar ein weiter Ermessensspielraum zustehe, wenn es darum gehe, zu entscheiden, ob die Familienzusammenführung von Personen, die keinen Flüchtlingsstatus erhalten haben, aber subsidiären oder vorübergehenden Schutz geniessen, an eine solche Frist geknüpft werden soll (Ziff. 161). Dieser Spielraum sei jedoch nicht absolut und erfordere jeweils eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit (Ziff. 162). Nur weil der EGMR in der Folge ausführt, dass er keinen Grund sehe, die Überlegung hinter einer zwei-jährigen Wartefrist zu hinterfragen, bedeutet dies noch lange nicht, dass eine solche Wartefrist (streng und undifferenziert) angewendet werden dürfte (vgl. Erläuterungen des Bundesrats). Vielmehr ist der EGMR der Ansicht, dass die zugunsten der Familienzusammenführung abzuwägenden Faktoren nach zwei Jahren zunehmend an Bedeutung gewinnen. Es sei jedoch stets eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, um festzustellen, ob die Einhaltung einer kürzeren Frist nicht aus Gründen der Einheit der Familie gerechtfertigt ist (Ziff. 193). Somit muss in jedem Einzelfall eine Verhältnismässigkeitsprüfung vorgenommen werden, und zwar unabhängig vom Ablauf einer Wartefrist, was zwingend in Art. 85c AIG festzuhalten ist.
Der Bundesrat erwähnt in seinem erläuternden Bericht zwar, dass ein Familiennachzug vor Ablauf der Wartefrist bewilligt werden könne, wenn «besondere Umstände» vorliegen. Dies leite sich laut Bundesrat aus dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz nach Art. 5 Abs. 2 BV ab, soll jedoch weder im AIG noch auf Verordnungsstufe festgeschrieben werden, was aus Gründen der Rechtssicherheit und dem Legalitätsprinzip äusserst bedenklich ist. Zudem ist unklar, was mit «besonderen Umständen» gemeint ist. Es wäre wünschenswert, wenn diese mindestens auf Verordnungsstufe klarer definiert würden, z.B. Kindsinteressen betroffen, Voraussetzungen für Nachzug schon früher erfüllt oder Notsituation vorliegend.
Die oben zitierte Feststellung des Bundesrats, dass eine Bewilligung vor Ablauf der Wartefrist bei Vorliegen von besonderen Umständen möglich sein soll, beisst sich überdies mit den weiteren Erläuterungen des Bundesrats zum Gesetzesartikel, wonach ein Gesuch nur individuell und eingehend geprüft werden soll, wenn der Ablauf der zweijährigen Wartefrist innerhalb der nächsten sechs Monate bevorsteht. Dies widerspricht sowohl der EGMR-Rechtsprechung als auch dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz gemäss Art. 5 Abs. 2 BV.
Schliesslich müssten die Faktoren, die gemäss erläuterndem Bericht in der Verhältnismässigkeitsprüfung berücksichtigt werden sollten, mindestens auf Verordnungsstufe festgeschrieben werden, damit sie justiziabel werden. Dazu gehören gemäss Bundesrat u.a. das Bestehen des Familienlebens vor Erteilung der vorläufigen Aufnahme; das Vorhandensein unüberwindbarer Hindernisse für die Fortsetzung des Familienlebens ausserhalb der Schweiz; der Grad der Integration der gesuchstellenden Person und deren Bindungen zur Schweiz sowie das Kindswohl (die Interessen der Kinder müssen massgeblich berücksichtigt werden). Weiter müssen bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit auch stets die zahlreichen Nachteile einer Wartefrist berücksichtigt werden: So bleiben vorläufig Aufgenommene in der Praxis über Jahre von ihren Familien getrennt. Aufgrund der äusserst restriktiven Vergabe von Rückreisevisa sowie der Unmöglichkeit einer Rückkehr in den Herkunftsstaat sind Besuche im Herkunftsstaat oder in Drittländern kaum möglich. Die Beziehungspflege beschränkt sich auf telefonische und Online-Kontakte. Hinzu kommt, dass Familiennachzüge gar ganz verunmöglicht werden können, wenn ein Kind während der Wartefrist volljährig wird. Diese Nachteile verschärfen sich mit zunehmendem Zeitablauf. Insbesondere wenn bereits das Asylverfahren mehrere Jahre gedauert hat, führt die Wartefrist bei vorläufig aufgenommenen Personen zu einer jahrelangen Trennung von ihren Familien.
Entsprechend muss auch die Aufenthaltsdauer vor der Gesuchseinreichung in der lnteressenabwägung berücksichtigt werden. So hält der EGMR in Ziff. 129 fest: «a waiting period of three years, although temporary, is by any standard a long time to be separated from one's family, when the family member left behind remains in a country characterised by arbitrary violent attacks and ill-treatment of civilians and when insurmountable obstacles to reunification there have been recognised. Moreover, the actual separation period would inevitably be even longer than the waiting period and would exacerbate the disruption of familylife». lm Fall M.A. gg. Dänemark wurde dem Gesuchsteller weniger als ein halbes Jahr nach seiner Einreise temporärer Schutz gewährt. ln Fällen aber, in denen die vorläufige Aufnahme erst nach einem jahrelangen Asylverfahren angeordnet wird, ist daher überaus fraglich, ob der EGMR von der Verhältnismässigkeit einer zweijährigen Wartefrist ausgehen würde, zumal sich die Trennung der Familie in den meisten Fällen auf weit mehr als zwei Jahre erstreckt. Die DJS fordern daher, dass die Wartefrist ganz aus Art. 85c Abs. 1 AIG gestrichen wird. Sollte eine Wartefrist wider der oben erläuterten und in der Rechtsprechung des EGMR festgehaltenen menschenrechtlichen Bedenken beibehalten werden, muss mindestens der Verhältnismässigkeitsgrundsatz auf Gesetzesstufe verankert werden. Dabei muss explizit festgehalten werden, dass jeweils eine Prüfung der individuellen Umstände im Einzelfall (insbesondere der bisherigen Aufenthaltsdauer und der Nachteile der Wartefrist auf die konkrete Situation) erfolgen muss, und zwar unabhängig vom Ablauf der Wartefrist. Die Faktoren für die Verhältnismässigkeitsprüfung bzw. die «besonderen Umstände» müssen dabei mindestens auf Verordnungsstufe klarer definiert werden.
3 Gleichzeitige Anpassung der Nachzugsfristen notwendig
Nebst der Wartezeit vor dem Stellen des Gesuchs um Familiennachzug unterliegt dieses auch noch anderen Fristen, welche nach Ablauf dieser Wartezeit beginnen. So muss der Familiennachzug für Ehepartner*innen und Kinder unter 12 Jahren innerhalb von fünf Jahren nach Ablauf der Wartezeit beantragt werden. Für Kinder älter als 12 Jahre ist er innerhalb eines Jahres nach Ablauf der Wartezeit zu beantragen (vgl. Art. 74 Abs. 3 VZAE). Wenn der Vorschlag des Bundesrates in seiner jetzigen Form angenommen würde, ohne eine Anpassung derjenigen Fristen nach Ablauf der Wartezeit in der VZAE vorzunehmen, hätte dies die unerwünschte Folge, dass die Gesamtdauer, die einer vorläufig aufgenommenen Person zur Verfügung steht, um alle weiteren Bedingungen für einen Familiennachzug zu erfüllen, um ein Jahr verkürzt würde. Aus der Praxis wissen wir, dass es zahlreiche Fälle gibt, bei denen in den ersten Jahren nach der vorläufigen Aufnahme eine Ablösung von der Sozialhilfe systembedingt noch nicht möglich ist. Diesem Systemfehler, der mit der Ausgestaltung der vorläufigen Aufnahme als Ersatzmassnahme zur Wegweisung und der Diskriminierung vorläufig Aufgenommener auf dem Arbeitsmarkt zusammenhängt, müsste – wie eingangs erläutert – mit einer Aufhebung des F-Status bzw. der Einführung eines gleichberechtigten Schutzstatus begegnet werden. Mindestens müssten die Nachzugsfristen von Art. 74 Abs. 3 VZAE in der Praxis flexibler gehandhabt werden oder zugunsten einer tatsächlichen Einzelfallbeurteilung gänzlich wegfallen. Insbesondere die einjährige Nachzugsfrist bei Kindern über 12 Jahren lässt sich im Lichte der EGMR-Rechtsprechung zum Kindswohl (vgl. oben unter 2.2) keinesfalls rechtfertigen. Überdies müssen die Voraussetzungen für den Familiennachzug gelockert werden – insbesondere, was die Voraussetzung der Unabhängigkeit von der Sozialhilfe betrifft. Es darf nicht sein, dass rein fiskalische Interessen der Wahrnehmung des Rechts auf Achtung des Familienlebens gegenüberstehen.
Das Wichtigste in Kürze:
- Die DJS sind der Auffassung, dass eine Wartefrist für Menschen mit einer vorläufigen Aufnahme und mit Flüchtlingseigenschaft nicht mit den internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz vereinbar ist und auch im Widerspruch mit der Rechtstellung von anerkannten Flüchtlingen in der EU steht. Die Wartefrist für anerkannte Flüchtlinge ist daher in jedem Fall zu streichen.
- Die DJS fordern, dass die Wartezeit in Fällen, in denen minderjährige Kinder involviert sind, gestrichen wird.
- Die DJS fordern, dass die Wartefrist auch für vorläufig aufgenommene Personen ohne Flüchtlingseigenschaft gestrichen wird. Sollte eine Wartefrist wider der erläuterten und in der Rechtsprechung des EGMR festgehaltenen menschenrechtlichen Bedenken beibehalten werden, muss mindestens der Verhältnismässigkeitsgrundsatz auf Gesetzesstufe verankert werden. Dabei muss explizit festgelegt werden, dass jeweils eine Prüfung der individuellen Umstände im Einzelfall erfolgen muss, und zwar unabhängig vom Ablauf der Wartefrist. Die Faktoren für die Verhältnismässigkeitsprüfung bzw. die «besonderen Umstände» müssen dabei mindestens auf Verordnungsstufe klarer definiert werden.
- Zugleich darf dadurch die aktuelle Gesamtdauer für den Nachzug von Ehepartner*innen und Kindern nicht gekürzt bzw. müssten die Nachzugsfristen flexibler gehandhabt werden, besser zugunsten einer tatsächlichen Einzelfallbeurteilung gänzlich wegfallen. Insbesondere die einjährige Nachzugsfrist bei Kindern über 12 Jahren lässt sich im Lichte der EGMR-Rechtsprechung zum Kindswohl (vgl. oben unter 2. 2) keinesfalls rechtfertigen.
- Grundsätzlich muss der Status der vorläufigen Aufnahme überdacht und durch einen Status ersetzt werden, dass allen Personen des Asylbereichs dieselbe privilegierte Rechtsstellung asylberechtigter Personen zukommt
[1] vgl. u.a. Gleiche Rechte für alle? Die vorläufige Aufnahme im Vergleich zum Schutzstatus S, Fachbericht SBAA, 2024
[2] EGMR, M.A. gegen Dänemark, Ziff. 138 und 153; EGMR, Urteil vom 10. Juli 2014, Tanda-Muzinga gegen Frankreich (Nr. 2260/10) Ziff. 75, und zuletzt in EGMR, Urteil vom 4. Juli 2023, B.F. u. A. gegen die Schweiz (Nr. 13258/18, 15500/18, 57303/18 und 9078/20), Ziff. 97 f.
[3] BVGer, Urteil F-2043 /2015 vom 26. Juli 2017, E. 6.3.
[4] Art. 12 Abs. 2 i.V.m. Art. 8 der Richtlinie 2OO3/ B6/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251 vom 3. Oktober 2003, S. 12 ff.), vgl. Gleiche Rechte für alle? Die vorläufige Aufnahme im Vergleich zum Schutzstatus S, Fachbericht SBAA, 2024, S. 36.
[5] EGMR, B.F. u. A. gegen die Schweiz, Ziff. 98. vgl. zum Ganzen: Reber Corinne, Bundesverwaltungsgericht passt Wartefrist bei Familiennachzug durch vorläufig Aufgenommene an, ASYL 3/2023, S. 29 ff.
[6] vgl. auch EGMR, B.F. u. A. gegen die Schweiz, Ziff. 90.