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28. März 2024

Teilrevision der Verordnung über die Förderung der ausserschulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (KJFV)

hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung als pdf

Wir sind davon überzeugt, dass unser Rechtssystem Kinder als Subjekte und eigenständige Persönlichkeiten behandeln muss und dass Kinder uneingeschränkt Zugang zum Rechtssystem haben müssen.

1.    Einleitung

Wir begrüssen, dass der Bundesrat grosse Lücken bezüglich einer kindergerechten Justiz anerkennt, bedauern aber, dass nun ein Vorschlag zur Vernehmlassung gelangt, der nicht geeignet ist, sie zu schliessen. Der Ständerat hatte die Motion 19.3633 mit 23 gegen 20 Stimmen und der Nationalrat mit einer grossen Mehrheit (138:46) angenommen. In zentralen Aspekten bleibt der Auftrag des Parlaments und der Zivilgesellschaft unerfüllt.

Die vorgeschlagene Anpassung der KJFV hat wenig mit der Motion Noser zu tun. Darum lehnen wir diese Anpassung als Umsetzung der Motion Noser ab. Wir fordern das Departement auf, stattdessen eine Botschaft auf Gesetzesstufe auszuarbeiten. Diese soll dem Kern der Motion und der Forderung des Parlaments nachkommen, nämlich der Schaffung einer Ombudsstelle für Kinderrechte, die sich effektiv an Kinder richtet und ihnen mit einer nationalen und unabhängigen rechtlichen Beratungs- und Vermittlungstätigkeit Zugang zur Justiz, partizipative, kinderfreundliche Strukturen und Informationen (z.B. spezifische Webseite, oder «leichte Sprache», nicht allein «auf Erwachsene ausgerichtete Denkweisen», vgl. Studie Ruggiero u.a. (2023), 95 ff.) ermöglicht.

Der Handlungsbedarf für eine solche Stelle, die im Direktkontakt Kindern hilft, ihre Rechte einzufordern, ist klar gegeben und nicht nachhaltig abgedeckt. Auch unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität ist Handlungsbedarf auf nationaler Ebene angezeigt. Und nicht nachvollziehbar ist für uns die Aussage, Aktivitäten auf Bundesebene im Bereich Beratung und Vermittlung für Kinder seien auf Basis der Bundesverfassung nicht möglich.

Wenn der Bundesrat im Erläuternden Bericht (EB) erwähnt, dass die Koordination der verschiedenen existierenden Stellen zielführender sei als eine nationale Stelle, dann verkennt er, dass eine solche Koordination die bestehenden Lücken nicht schliessen wird. Die Bestandesaufnahme in der Studie Ruggiero u.a. (2023), zeigt: Etwa 78% befürworteten die Motion, klar oder mit Vorbehalten, im privaten Bereich befürworteten mehr als 90% die Motion.

Schliesslich sind wir davon überzeugt, dass eine Ombudsstelle die Pariser Prinzipien erfüllen müsste.[i] Diese Haltung entspricht auch den Empfehlungen der EKKJ (2020)[ii] und des SKMR (2022)[iii].

2.    Allgemeine Hinweise zur Vorlage und rechtliche Grundlagen

Die soeben erwähnte fehlende Unabhängigkeit im Sinne der Pariser Prinzipien[iv], ist eine zentrale Lücke bezüglich der Kinderrechte. Damit wird der politische Auftrag (Motion 19.3633) mit der vorliegenden Vernehmlassungsvorlage nicht erfüllt.

Die vorgeschlagenen Anpassungen in der Kinder- und Jugendförderungsverordnung (KJFV, SR 446.11) beziehen sich gemäss dem EB auf die Stärkung der Kinderrechte innerhalb der neuen Nationalen Menschenrechtsinstitution. Die Stärkung der Kinderrechte innerhalb der SMRI ist begrüssenswert; insbesondere könnte sie, aber nicht nur, schon aktuell Forschung im Bereich Kinderrechte betreiben (Art. 10b Abs. 1 Bst. b BG über Massnahmen zur zivilen Friedensförderung und Stärkung der Menschenrechte). Die Motion 19.3633 fordert aber einen direkten und unmittelbaren Nutzen für die vulnerabelsten Menschen in unserem Land: Information, Beratung, Vermittlung, Verbesserung des Zugangs zur Justiz. Nichts spricht dagegen, dass eine Ombudsstelle für Kinderrechte mit der SMRI eng zusammenarbeitet.

Der Bundesrat argumentiert, dass die Erfüllung dieser Kernaufgabe im Rahmen der Bundesverfassung und aufgrund der bestehenden Kompetenz- und Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen nicht möglich sei. Eine nachvollziehbare und detaillierte Begründung fehlt im erläuternden Bericht.

Mit der klaren Annahme des «Bildungsartikels» im Mai 2006 in einer Volksabstimmung, kann der Bund gestützt auf Art. 67 Abs. 2 BV in Ergänzung zu den Massnahmen der Kantone tätig werden, ein Rahmengesetz existiert aber nicht. Abs. 2 BV ermöglicht dem Bund, nicht nur den Kantonen, die Förderung der ausserschulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in dem Sinne, dass er parallel und lückenfüllend handeln kann. Und Abs. 2 erlaubt den Kantonen weiterhin, ihre diesbezüglichen Förderungsmassnahmen wahrzunehmen, parallel zum Bund, wie der EB erwähnt («parallele und subsidiäre Kompetenz des Bundes»). Diese Kompetenz lässt einen «verfassungsrechtlichen Handlungsspielraum für Regelungen im Bereich der Kinderrechte» zu (EB S. 6). Jedoch soll und kann der Bund offene und innovative Formen der Kinder- und Jugendarbeit verstärkt fördern (Botschaft Kinder- und Jugendförderung, 6844, 2010) und seinen lückenfüllenden Spielraum extensiv nutzen. Das KJFG (SR 446.1) stützt sich i.d.S. auf Abs. 2 von Art. 67.

Art. 67 Abs. 1 BV Abs. 1 verpflichtet Bund und Kantone gleichermassen; das verkennt der EB (S. 5). Der Auftrag an Bund und Kantone, Kinder und Jugendliche zu fördern und zu schützen, bezieht sich auch auf Art. 11 BV, Art. 29 und Art. 29a BV und völkerrechtlich auf die UNO-Kinderrechtskonvention und die Istanbul-Konvention (SR 0.311.3). Der Anwendungs-/Sachbereich (Schutz, Förderung und eigenständige Rechtsausübung im Rahmen der Grundrechtsmündigkeit (Art. 19c ZGB)) entspricht Art. 11 BV (als umfassendes und vordringliches Anliegen). Auch Lücken bei der Umsetzung der Leitlinien des Ministerkomitees des Europarates für eine kindergerechte Justiz könnten aufgrund der Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem Gebiet des Zivilprozess- und des Strafprozessrechts (Art. 122 f. BV) gefüllt werden.[v]

Jedoch, jeder Kanton führt seine eigene Kinder- und Jugendpolitik, weshalb wir von einer durch föderale Strukturen verursachten Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz sprechen müssen, die weder mit der Bundesverfassung, insbesondere Art. 11, i.V.m. Art. 10 Abs. 2 BV und Art. 13 BV, und Art. 35 Abs. 2) noch mit der UNO-Kinderrechtskonvention vereinbar ist. Auch die Istanbul-Konvention enthält nicht nur allgemeine Empfehlungen, sondern auch konkrete Verpflichtungen, die sowohl vom Bund also auch von den Kantonen umgesetzt werden müssen, z.B. kantonale Anlaufstellen für die Migrationsbevölkerung zu Art. 38. Der Unversehrtheitsschutz (Art. 11 BV) ist nicht unbestimmter als andere Verfassungsgarantien.

Insbesondere wegen den dezentralen Strukturen, der Unübersichtlichkeit und Uneinheitlichkeit der Regelungen in den Kantonen werden die Vorgaben der UNO-Kinderrechtskonvention – und der Istanbul-Konvention, soweit Kinder betroffen sind – und die verfassungsrechtlichen Rechte von Kindern und Jugendlichen nicht einheitlich gewährleistet.[vi] Es besteht kein effektiver Koordinierungs- und Überwachungsmechanismus im Verhältnis der drei staatlichen Ebenen.

Auch das Sozialziel in Art. 41 BV verpflichtet Bund und Kantone dazu, sich dafür einzusetzen, dass Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu selbständigen und sozial verantwortlichen Personen unterstützt werden sowie ihre Gesundheit gefördert wird. Es ist auch davon auszugehen, dass Art. 43a Abs. 1 BV den Bund nicht generell dazu verpflichtet, neue Aufgaben zu übernehmen, selbst wenn eine einheitliche, gesamtschweizerische Lösung sinnvoll wäre. Jedoch ist in jedem Fall eine Wertung vorzunehmen: Eine einheitliche Regelung durch den Bund kann geboten sein, wenn eine Gleichbehandlung der betroffenen Kinder, die aktuell je nach Wohnort nicht die gleichen Angebote haben, eine gesamtschweizerisch einheitliche Regelung aufgrund des Diskriminierungsverbots erfordert. Auch gesellschaftliche Entwicklungen (Internet, Hassrede, Falschinformationen etc.) bedingen national einheitliche Massnahmen.

Mit der vorliegenden Verordnungsregelung in der KJFV sind nur geringfügige Fortschritte möglich, nicht aber eine kindergerechte Justiz und die unmittelbare Verhinderung von Unrecht, wenn Kinder nicht informiert und nicht angehört werden. Erforderlich ist darum eine Botschaft ans Parlament, welche die Eckwerte der Motion umsetzt und den Zugang von Kindern zur Justiz mit einer nationalen und unabhängigen Ombudsstelle verbessert. Im Rahmen einer solchen Botschaft kann es selbstverständlich nicht darum gehen, die aktuelle Kompetenz- und Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen oder die Angebote in den Kantonen in Frage zu stellen, sondern diese mittels einer Ombudsstelle i.S.d. der Studie Ruggiero u.a. (2023) zu koordinieren.

Insgesamt entspricht die Vernehmlassungsvorlage 1) den unmittelbaren Förderungs- und Schutzbedürfnissen der Kinder, 2) den Kindern, die sich in rechtlichen Verfahren befinden oder auf das sie Anspruch haben, 3) dem politischen Willen des Parlaments, das die Motion überwiesen hat, 4) der UNO-Kinderrechtskonvention und in einer Gesamtbeurteilung 5) den verfassungsrechtlichen Schutzrechten von Kindern, nicht.

Der Verweis auf Art. 386 StGB bzw. Artikel 123 BV im EB (S. 6) ist schwer nachvollziehbar. Selbstverständlich kann aber die KJFV nicht die «Grundlage für eine umfassende Stärkung der Kinderrechte» sein. Es ist zu erwähnen, dass die von der Motion 19.3633 empfohlene Lösung eine Beteiligung an Verfahren durch die Ombudsstelle nicht vorsieht. Die Formulierung «den Zugang zur Justiz sicherstellen» meint nicht, dass die Ombudsstelle selbst an Verfahren als Partei «beteiligt» ist. Um dies auch sprachlich klarzumachen, wird hier von «dem Kind zu ermöglichen» gesprochen. Schliesslich ist daran zu erinnern, dass der Bund auch im Zivilrecht eine umfassende Kompetenz hat (Art. 122 BV), wenn es um die psychische und physische Unversehrtheit  und die Vertretung des Kindes geht (Kindeswohl, Anhörung, Vertretung des Kindes).

Die Ombudsstelle für Kinderrechte gemäss der Motion bezweckt den Informationsaustausch, die Finanzierung, Information und Beratung und die vermittelnde Tätigkeit zwischen dem Kind und staatlichen Stellen sowie Empfehlungen und die Koordination, d.h. auf bereits vorhandene Angebote etwa in Kantonen oder Gemeinden verweisen zu können. Zusätzlich könnte die Ombudsstelle Präventionsmassnahmen zugunsten der Kinder nach Art. 386 StGB ausarbeiten, soweit der Bund diese Bestimmung mit einem neuen Absatz ergänzt. Die im EB (S.8) beschriebenen Aufgaben des Bundes im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik zum Informations- und Erfahrungsaustausch könnten an die Ombudsstelle übertragen werden, gegebenenfalls auch mit Beteiligung des Bundes.

3.    Abgrenzung und Mehrwert einer Ombudsstelle für Kinderrechte

Eine nationale und unabhängige Ombudsstelle für Kinderrechte hat die Kernaufgabe, Kindern den Zugang zur Justiz und die gemäss Art. 29 BV garantierten Verfahrensrechte (wie u.a. rechtliches Gehör und unentgeltliche Rechtspflege, Rechtsvertretung sowie das Recht auf gleiche und gerechte Behandlung) zu ermöglichen. Dies ist heute nicht gewährleistet, was mit weiteren Lücken im heutigen System auf Seite 3 des EB umfassend ausgeführt wird. Kinder können im Schweizer Rechtssystem ihre verankerten Rechte nicht ohne zusätzliche Unterstützung einfordern, wenn involvierte Behörden diese nicht berücksichtigen. Bestehende kommunale, kantonale und nationale Institutionen decken diese Problematik nicht genügend ab. Eine unabhängige Ombudsstelle hingegen verschafft und vereinfacht Kindern situativ den Zugang zur Justiz. Sie informiert, berät und vermittelt zwischen dem Kind und den Fachpersonen im Justizsystem, und zwar auf allen Instanzenebenen. Insbesondere die Vermittlung und das Aussprechen von Empfehlungen sind zentrale Aufgaben der Ombudsstelle. Eine solche Stelle weist einen entscheidenden Mehrwert für Kinder und die Gesellschaft als Ganzes auf.

  • Kinder erhalten den ihnen zustehenden, ihren Rechten entsprechenden Zugang zur Justiz in Situationen, in denen die bestehenden Gesetze von Behörden und Gerichten nicht angemessen angewendet werden und die Eltern sich, aus verschiedenen Gründen, nicht für die Rechte ihrer Kinder einsetzen können.
  • Eine nationale und unabhängige Ombudsstelle für Kinder, die früh eingreifen kann und dabei an der Verbesserung des Systems auf Basis praktischer Erfahrungen arbeitet, rechnet sich auch wirtschaftlich. Sie verhindert Unrecht und leistet, je nach Interventionszeitpunkt, verschiedene Arten der Prävention – und vermeidet damit hohe Folgekosten.
  • Eine nationale und unabhängige Ombudsstelle fördert die Resilienz der Kinder, eine entscheidende Voraussetzung für ein selbständiges und eigenverantwortliches Leben. Resilienz ist in jungen Jahren entscheidend, da in der frühen Lebensphase viele entwicklungspsychologische Veränderungen erfolgen. Selbstwirksamkeit, Anpassungsfähigkeit, Problemlösungskompetenz oder das frühe Übernehmen von Eigenverantwortung werden gestärkt. Diese Kombination führt volkswirtschaftlich zu einem besseren Kosten-Nutzen-Verhältnis.
  • Eine Ombudsstelle schafft keine Doppelspurigkeit, greift nicht, wie erwähnt, in die Kompetenzordnung und damit in die Hoheit der Kantone, Behörden und Gerichte ein und beeinträchtigt nicht die Verantwortlichkeiten im Justizsystem. Sie hat eine unterstützende, koordinierende Aufgabe auf nationaler Ebene zwecks Umsetzung der BV, der UNO-Kinderrechtskonvention, der nationalen und kantonalen Gesetzgebung und der Leitlinien für eine kindergerechte Justiz (dazu oben N 0).

4.    Zweckmässigkeit

In der Vernehmlassungsvorlage wird argumentiert, dass eine Ombudsstelle auf nationaler Ebene aus fachlicher Sicht nicht zweckmässig sei (EB, S. 6). Dies verkennt die Arbeitsweise einer nationalen und unabhängigen Ombudsstelle, die zwischen Kindern und lokalen Fachpersonen vermittelt und Empfehlungen ausspricht. Eine nationale Stelle ist für Kinder niederschwellig und barrierefrei zugänglich. Für Kinder stellt es in der heutigen Zeit keine Hürde dar, sich telefonisch, mittels digitalen Hilfsmitteln, per Videocall, per Mail, kindesgerechter Webseite, etc. an sie zu wenden. Auch vermittelt sie zwischen dem betroffenen Kind und lokalen Fachpersonen und schafft Vertrauen. Für Kinder und Jugendliche kann es ein Hinderungsgrund sein oder mit Scham verbunden sein, sich bei lokalen Stellen zu melden; diese kennen gegebenenfalls das Kind persönlich. Eine persönliche Beratung vor Ort ist wichtig (EB, S. 7), aber kein Grund gegen eine nationale Ombudsstelle, die ein solches Gespräch vermitteln kann. Wenn aber vor Ort eine Fachperson noch nicht involviert ist, weist eine nationale, unabhängige Ombudsstelle die zuständige lokale Behörde oder das Gericht darauf hin und ist bemüht, dass sie eingesetzt oder beigezogen wird (z.B. eine Beistandsperson, Rechtsvertretung, Mediation, eine sozialpädagogische Familienbegleitung oder Sozialarbeitende). Wie erwähnt, es sind die lokalen Fachpersonen, die aufgrund der Empfehlungen die weiteren notwendigen Schritte vor Ort kindesgerecht umsetzen und das Kind direkt begleiten. Die Ombudsstelle ist situativ im Sinne eines kurzen Case Managements involviert, um die Kinder- und Verfahrensrechte zu ermöglichen. Bedarf und Nachfrage sind offensichtlich:

  • Die bestehenden Gesetze und Rechte auf Information, z.B. das Recht auf Gehör oder auf eine Rechtsvertretung, durch staatliche Stellen wie Behörden und Gerichte werden nicht oder nicht korrekt angewendet.
  • Die Kinderrechte werden gestärkt, wenn ein kindergerechtes Justizsystems gefördert und das Qualitätsmanagement verbessert wird.
  • Eine kindergerechte Justiz hat direkte Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit der betroffenen Kinder und deren Resilienz; sie verhindert, dass später eine Wiedergutmachung des Schadens nötig wird, weil die Rechte von Kindern missachtet wurden. Dies gilt insbesondere für alle hoch belasteten Kinder, beispielsweise Kinder mit einer Behinderung sowie vernachlässigte, verwaiste oder von physischer oder psychischer Gewalt betroffene Kinder. Der EB (S. 7) erwähnt denn auch zu Recht, dass der Zugang zu gerichtlichen Rechtsmitteln nicht kinderfreundlich ausgestaltet sei.
  • Die (wenigen) existierenden Ombudsstellen behandeln nur Anliegen, die sich auf die jeweilige Verwaltung beziehen. Zudem wenden sich erfahrungsgemäss ausschliesslich Erwachsene an diese Stellen. 90 Prozent der Anfragen von Kindern an die heutige privatrechtliche Ombudsstelle für Kinderrechte betreffen aber die Justiz, nicht die Verwaltung – ausserhalb des Bereichs, für den kantonale Ombudsstellen zuständig sind.
  • Für effektive Verbesserungen und im Idealfall Sicherstellung beim Zugang von Kindern zur Justiz ist neben der rechtlichen Beratungs- und Vermittlungstätigkeit im Einzelfall die Arbeit auf der systemischen Ebene Diese kann nur von einer Stelle mit Praxiserfahrung erfolgreich vorgenommen werden: Um die Vernetzung der Akteure stärken, die Zusammenarbeit fördern und den – auch interkantonalen – Wissenstransfer sicherstellen zu können, braucht eine Stelle Praxiserfahrung in der Beratung von Kindern und in der Vermittlung zwischen Kindern und lokalen Fachpersonen. So gut die Stärkung der Kinderrechte innerhalb der SMRI in der Vernehmlassungsvorlage gemeint ist, diese hätte mangels Praxisbezug in diesem Bereich einen geringen Einfluss darauf, dass Fachpersonen vor Ort die Kinderrechte umsetzen. Zudem müsste die Finanzierung der SMRI verbessert werden; ihre Unabhängigkeit entspricht nicht vollumfänglich den Pariser Prinzipien. Auch das Parlament profitiert, eine praxiserfahrene Organisation zu den Auswirkungen von Gesetzesvorhaben auf die Kinderrechte konsultieren zu können.
  • Der nationale psychosoziale Notruf 147 (24/7) von Pro Juventute ist darauf angewiesen, Kinder an eine nationale und unabhängige Ombudsstelle für Kinderrechte verweisen zu können. 20 Prozent der Anrufe bei der privatrechtlichen Ombudsstelle für Kinderrechte erfolgen durch deren Triage. Der Notruf 147 kann z.B. bei Suizidabsicht erste psychosoziale Hilfe leisten, aber im Gegensatz zu einer unabhängigen Ombudsstelle für Kinderrechte nicht durch eine Vermittlung zwischen dem Kind und der lokalen Fachperson ursächlich intervenieren.

5.    Bedeutung im Justizsystem

In der ganzen Schweiz gibt es weder kommunal, kantonal noch national eine öffentlich-rechtliche, niederschwellige und unabhängige Ombudsstelle für Kinder mit einer rechtlichen Beratungs- und Vermittlungstätigkeit bezüglich des Justizsystems. Nur die privatrechtliche Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz nimmt diese Aufgabe als befristetes Pilotprojekt und Modellvorhaben wahr.

Der Bundesrat geht davon aus, dass auf kantonaler und kommunaler Ebene bereits viele Angebote bestehen, die relevante Tätigkeiten ausüben, und diese lediglich von den Kantonen und den Gemeinden ausgebaut werden müssten. Von Bedeutung ist, dass Akteure, die selbst Teil des Justizsystems und Entscheidungsträger sind (z.B. KESB oder Staatsanwaltschaft), keine direkt an Kinder gerichtete Dienstleistungen anbieten, und dass sie nicht die relevante Tätigkeit der umfassenden rechtlichen Beratung und Vermittlung im Justizsystem ausüben. Gemäss der Studie Ruggiero u.a. (2023) ist die absolute Mehrheit der Akteure zudem nicht niederschwellig für Kinder und Jugendliche zugänglich und bietet keine Informationen in leichter Sprache, Übersetzungsleistungen oder Webseiten mit kindergerechter Information an.

Der Bundesrat geht auch davon aus, dass die Kantone bei der Schliessung der Lücken auf das Engagement zahlreicher privater Organisationen zählen könnten. Jedoch: mehr als die Hälfte der befragten Akteure betrachtet sich bereits jetzt als nicht hinreichend finanziert, dies betrifft insbesondere NGOs. Die Akteure selbst sehen als die dringlichsten Probleme neben der Finanzierung die nicht genügend leichte Zugänglichkeit für Kinder sowie Lücken in der nationalen und kantonalen Gesetzgebung. Viele der befragten Akteure, insbesondere private und halb-öffentliche, sind zudem nicht unabhängig.

6.    Notwendigkeit

Das BSV verkennt, dass nicht nur die Kantone, sondern auch der Bund in der Pflicht steht, die Kinderrechte umzusetzen. So obliegt es dem Bund, die Kinderrechte in Verfahren auf Bundesebene (SEM, BASPO) sowie das Mitteilungsverfahren an den UNO-Kinderrechtsausschuss (gemäss dem Fakultativprotokoll 3, SR 0.107.3) sicherzustellen. Der Bund kann nach Art. 43a BV diese Aufgabe übernehmen, da dies die Kraft der Kantone übersteigt und weil es einer einheitlichen Regelung durch den Bund bedarf (oben N 0).

Eine nationale Ombudsstelle stellt durch ihre Beratungs- und Vermittlungstätigkeit die Umsetzung für die Kinder sicher und hat eine unterstützende und koordinierende Aufgabe, die, wie bereits erwähnt, die Möglichkeiten der Kantone übersteigt und sinnvollerweise auf nationaler Ebene angesiedelt werden muss. Auf freiwillige und lückenhafte kantonale Lösungen und ausschliesslich auf die Stärkung der Kinderrechte innerhalb der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution zu setzen, ohne rechtliche Beratungs- und Vermittlungsaufgaben, bringt gravierende Nachteile mit sich:

  • Die rechtliche Beratungs- und Vermittlungstätigkeit für Kinder braucht spezialisier­tes Fachwissen: juristische Kenntnisse über alle Rechtsgebiete in Verbindung mit besonderen Kompetenzen im Umgang mit Kindern sowie ein mehrsprachiges Angebot. Es ist effizient und ökonomisch sinnvoll, wenn eine nationale Stelle dieses Know-how innehat und nicht 26 Kantone es aufbauen müssen. Dies wäre auf freiwilliger Basis nur durch einen enormen Aufwand möglich, flächendeckend nicht realisierbar, würde Jahrzehnte dauern und enorme Betriebskosten für Bund, Kantone und Gemeinden mit sich bringen.
  • Eine Delegation der Aufgabe an die Kantone auf freiwilliger Basis würde dazu führen, dass es vom Wohnort eines Kindes abhängt, ob es Zugang zur Justiz erhält, was eine Ungleichbehandlung und Diskriminierung bedeutetet.
  • Mit einer nationalen und unabhängigen Lösung hingegen erhalten alle Kinder eine realistische Chance auf den Zugang zur Justiz. Dies bedeutet Gleichbehandlung und Gerechtigkeit für alle Kinder, unabhängig vom Wohnort. Wie stark eine Ungleichbehandlung ohne eine nationale Lösung ausfallen würde, lässt sich erahnen, wenn bedacht wird, dass in den letzten 50 Jahren nur sieben Kantone kantonale Ombudsstellen für die Verwaltung geschaffen haben.
  • Die wenigen kantonalen und kommunalen Ombudsstellen beschränken sich auf Anliegen, die nur die jeweilige Verwaltung betreffen. Für die weitaus häufigeren Anfragen nach rechtlicher Beratung von Kindern und eine Vermittlung bezüglich der Justiz sind sie nicht zuständig – insbesondere nicht im Rahmen des Instanzenzugs auf nationaler oder internationaler Ebene.
  • In der Praxis der letzten Jahre hat sich gezeigt, dass in vielen Fällen mehrere Kantone involviert sind (z.B. bei Kindesschutzverfahren, bei denen ein Kind ausserkantonal in einem Time-Out ist und die beiden Elternteile in unterschiedlichen Kantonen wohnen). Manchmal trifft es auch Kantone und Bundesämter (z.B. Kindesschutzsituationen im Zusammenhang mit der nationalen Meldestelle Sport und einem lokalen Sportverein). Nur mit einer nationalen Ombudsstelle ist in solchen Fällen eine unbürokratische, rasche und effektive Hilfe möglich.
  • Bei bestehenden kantonalen oder kommunalen Ombudsstellen ist die Sicherstellung der Unabhängigkeit gegenüber Fachpersonen im Verwaltungssystem eine Herausforderung. Sie meistern diese im Alltag gut. Eine nationale und unabhängige Ombudsstelle kann diesbezüglich unterstützend tätig sein.
  • Jede Triage – etwa durch die SMRI oder den Notruf 147, die bei Direktanfragen von Kindern nicht rechtlich beraten und vermitteln können, sondern nur weiterverweisen – birgt das Risiko, dass Kinder nicht an eine für die Justiz zuständige Ombudsstelle gelangen und keine Unterstützung erhalten. Während die SMRI in der Wissensvermittlung und der Koordination eine positive Rolle spielen kann, ist sie nicht geeignet, schnelle und praktische Unterstützung zu leisten, unmittelbar Unrecht zu verhindern und zeitnah die Persönlichkeitsrechte von Kindern sicherzustellen.

Die Tätigkeit einer nationalen und unabhängigen Ombudsstelle für Kinderrechte greift nicht in die Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen ein, weil sie – wie erwähnt (oben N 0) – nicht Partei ist und keine rechtlichen Vertretungen übernimmt oder Verfahren führt, sondern nur Empfehlungen ausspricht. Deshalb ergibt sich auch kein Widerspruch zur Aufgaben- und Kompetenzordnung.

Auch unter dem Gesichtspunkt der in der Schweiz geltenden Subsidiarität (Art. 43a Abs. 1 i.V.m. Art. 5a BV ) ist darum der Handlungsbedarf auf nationaler Ebene gegeben.

7.    Schlussbemerkung und Fazit

Aufgrund der obigen Gründe fordern wir, dass dem Bedürfnis von Kindern und Akteuren aus der Praxis wie auch dem politischen Willen des Parlaments (Motion Noser 19.3633) entsprochen wird und die Schaffung der in der Motion geforderten nationalen und unabhängigen Ombudsstelle für Kinderrechte effektiv als Ziel der Vorlage im Fokus steht. Mit einer Botschaft sollten die Rechtsgrundlagen für eine nationale und unabhängige Ombudsstelle für Kinderrechte erarbeitet werden, um die heutigen Lücken im System effektiv schliessen zu können. Einzelne Überlegungen des Vernehmlassungenstwurfs (KJFV) können in die Botschaft einfliessen. Eine Botschaft sollte aber die folgenden Bedingen erfüllen:

  • Öffentlich-rechtliches Mandat mit gesetzlicher Grundlage/gesetzlichen Grundlagen
  • Rechtliche Beratungs-, Vermittlungs- und Koordinationstätigkeit auf nationaler Ebene
  • Nationale und unabhängige Ombudsstelle
  • Verbesserung des Zugangs zum Recht und Zusammenarbeit mit Stellen mit Beratungs- und Hilfsangeboten für Kinder und Jugendliche in verschiedenen Bereichen
  • Auskunftsrecht und Berichterstattung
  • Anlaufstelle für die zahlreichen privaten Organisationen und andere Kinderrechtsorganisationen und Zusammenarbeit mit diesen
  • Kindergerechtes, niederschwelliges, mehrsprachiges und barrierefreies Angebot, verfügbar für alle Kinder in der Schweiz
  • Vorhandene Kompetenzen und Erfahrung im Umgang mit Kindern
  • Rechtswissenschaftliche Kenntnisse in den relevanten Rechtsgebieten
  • Keine wesentlichen Zusatzkosten auf kantonaler und kommunaler Ebene

Eine Finanzierung mit jährlich zwei Millionen Franken entspricht den Erfahrungen des privatrechtlichen Modellvorhabens der bestehenden Ombudsstelle für Kinderrechte. Wir schliessen uns diesem Vorschlag an. Es wird damit vermieden, dass die einzelnen Kantone in langjährigen Gesetzgebungsprozessen, zusätzliche Finanzierungsmodelle mit gegebenenfalls zusätzlicher Finanzierung prüfen und umsetzen müssen.

 

Hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung

 

[i] Dies hat der UNO-Kinderrechtsausschuss der Schweiz mehrmals empfohlen: CRC/C/CHE/CO/2-4, para. 19 und CRC/C/CHE/CO/5-6, para. 13 (“Mécanisme de suivi indépendant”); auch: CRC/C/15/Add.182, para. 16.

[ii] Eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen EKKJ (2020): Grundlagenpapier zur Schaffung einer nationalen Ombudsstelle Kinderrechte in der Schweiz, 5;
Committee on the Rights of the Child, General Comment No. 2 (2002): The role of independent national human rights institutions in the promotion and protection of the rights of the child.

[iii] Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR), Bilanzbericht SKMR 2022, Die Partizipation von Kindern und Jugendlichen: Im Prinzip ja, aber... (S. 18 ff.. 19), 2022.

[iv] UN-General Assembly, National institutions for the promotion and protection of human rights (A/RES/48/139), 4 March 1994 (adopted: 20 December 1993).

[v] Die in Ziff. 2 vereinzelt erfolgte Einordnung der Verfassungsbestimmungen (Art. 11, 41, 43a, 67) beruht auf dem SGK (Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, Zürich/St. Gallen
3. Aufl., 2014/4. Aufl. 2023) – SGK 2014: Ruth Reusser/Kurt Lüscher (Art. 11); Margrith Bigler-Eggenberger/Rainer J. Schweizer (Art. 41); Rainer J. Schweizer/Lucien Müller (Art. 43a); Regula Gerber Jenni (Art. 67); SGK 2023: Judith Wyttenbach (Art. 11); Patricia Egli/ Rainer J. Schweizer (Art. 41); Lucien Müller (Art. 43a); Judith Wyttenbach (Art. 67).

[vi] Vgl. Müller Jörg Paul/Schefer Markus, Ansprüche auf Leistung und besonderen Schutz / Schutz von Kindern und Jugendlichen (Art. 11 BV), S. 801-815 in: Grundrechte in der Schweiz im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der UNO-Pakte (4. Auflage), Bern 2008; Bucher Laura, Die Rechtsstellung der Jugendlichen im öffentlichen Recht (§ 24), Zürich 2013.