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13. März 2025

Vernehmlassung 20.451 Armut ist kein Verbrechen

hier finden Sie die eingereichte Vernehmlassung als pdf

Vernehmlassung 20.451 Parlamentarische Initiative. Marti Samira. Armut ist kein Verbrechen

1. Einleitung

Die DJS ist erfreut, dass die parlamentarische Initiative in National- und Ständerat angenommen wurde. Das Parlament anerkennt damit, dass die immer stärkere Verknüpfung von Sozialhilfebezug mit ausländerrechtlichen Massnahmen problematisch ist und Handlungsbedarf besteht. Die DJS setzt sich für die Entkoppelung von Sozialhilfe- und Migrationsrecht ein. Die Netze der sozialen Sicherung dürfen nicht als Instrument zur Migrationssteuerung missbraucht werden. Die Sozialhilfe ist dazu da, Menschen, die ansonsten unter der Armutsgrenze leben müssten, die Existenz zu sichern und ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen» nimmt diesen Grundgedanken der Sozialhilfe als effektives Unterstützungsnetz für alle armutsbetroffenen Menschen, unabhängig ihrer Herkunft und ihres Aufenthaltsstatus, auf.

2. Das Wichtigste in Kürze

  • Die DJS unterstützt das Anliegen der parlamentarischen Initiative «Armut ist kein Verbrechen», die Rechtssicherheit von Ausländer*innen zu verbessern, indem diese im Bedarfsfall Sozialhilfe beziehen können, ohne um ihr Aufenthaltsrecht in der Schweiz fürchten zu müssen.
  • Die DJS spricht sich klar für die Entkoppelung von Aufenthaltstatus und Sozialhilfebezug aus. Nur eine vollständige Entkoppelung von Sozialhilfebezug und Aufenthaltsberechtigung kann längerfristig garantieren, dass für alle in der Schweiz lebenden armutsbetroffenen Menschen der Zugang zur verfassungsmässig garantierten Unterstützung in Notlagen gleichermassen gegeben ist.
  • Die DJS fordert anstelle des «eigenen Verschuldens» den Begriff der Mutwilligkeit ins Gesetz aufzunehmen: Bezieht eine Person Sozialhilfe, so kann ihr deswegen eine Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung nur dann entzogen werden, wenn sie ihre Lage, die zur Sozialhilfeabhängigkeit führte, entweder selbst mutwillig herbeigeführt oder unverändert gelassen hat.

3. Verschränkung von Sozialhilfebezug und Aufenthaltsstatus

Bereits das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) nannte die finanzielle Unabhängigkeit respektive der Nichtbezug von Sozialhilfeleistungen als einer der Gründe für den Widerruf einer Aufenthaltsberechtigung.[1] Unter dem Bundesgesetz über die Ausländer*innen (AuG) waren Ausländer*innen, die seit 15 Jahren im Land lebten, davor geschützt, dass ihre Niederlassungsbewilligung bei einem Bezug von Sozialhilfe entzogen werden konnte.[2] In der EU ist der Bezug von Sozialhilfe nach fünf Jahren regulären Aufenthalts in einem Gastland kein Grund mehr für den Entzug des Aufenthalts.[3]  Seit dem Inkrafttreten des AIG am 1. Januar 2019 sind die Sozialdienste verpflichtet unaufgefordert, den Bezug und den Umfang von Sozialhilfeleistungen durch Ausländer*innen an die Migrationsämter zu melden.[4]

Die Umsetzung der aktuellen Rechtsvorschriften führt zu einer Verschränkung der unterschiedlichen Kompetenzen und Ziele der einzelnen Behörden und somit zu komplexeren Verfahren. In der Konsequenz können sich die Erwartungen und Empfehlungen an Sozialhilfebezüger*innen widersprechen. Solche gemischten Signale können die wirtschaftliche und die aufenthaltsrechtliche Situation der Betroffenen zusätzlich prekarisieren.[5]

Schliesslich prägt die aktuelle rechtliche Situation das Verhalten der ausländischen Wohnbevölkerung. Eindrücklich zeigte sich dies während der Covid-19-Pandemie: Aus Angst vor ausländerrechtlichen Konsequenzen suchten viele ausländische Personen – selbst langjährige Bewohner*innen mit Niederlassungsbewilligung – auch in existenziellen Notlagen keine Unterstützung bei den Sozialdiensten. Im Spannungsfeld zwischen drohender finanzieller Not und der Unsicherheit des Aufenthaltsrechts wurde die Sicherung des Bleiberechts oftmals höher gewichtet. Statt staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, wandten sich viele ausländische Personen an Kirchen oder Nichtregierungsorganisationen, um Beratung sowie finanzielle oder materielle Unterstützung zu erhalten. Diese nichtstaatlichen Akteure konnten jedoch die Bedarfe häufig nicht vollständig und nachhaltig abdecken. Fachleute weisen klar darauf hin, dass die unzureichende soziale Absicherung langfristige Folgen haben kann, etwa in Form von finanzieller Verschuldung oder psychischen Belastungen.[6]

4. Spezifische Anmerkungen zum Vernehmlassungsentwurf

Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats (SPK-N), die den Gesetzesvorschlag ausgearbeitet hat, ist in zwei Punkten vom Initiativtext abgewichen: bei der Schutzfrist von zehn Jahren, nach der ein Widerruf nur in besonderen Fällen möglich wäre, sowie beim Begriff der Mutwilligkeit. Der Vorschlag der SPK-N ist damit eine Abschwächung gegenüber dem Initiativtext und bedeutet lediglich eine Kodifizierung der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts. Diese Übernahme der Rechtsprechung ins Gesetz ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, den die DJS unterstützt.

Die parlamentarische Initiative hatte allerdings die Absicht, Ausweisungen auf Missbrauchsfälle zu begrenzen, was unseres Erachtens mit dem vorliegenden Gesetzesentwurf nicht erreicht wird. Nachfolgend soll auf diese zwei Verschlechterungen in der Gesetzesvorlage eingegangen werden und Änderungsvorschläge vorgebracht werden.

4.1 Verzicht auf eine explizite Frist von zehn Jahren

Eine grosse Abweichung vom Initiativtext ist die vorgeschlagene Abkehr von der Nennung einer Schutzfrist von zehn Jahren im AIG. Im Text der parlamentarischen Initiative wird gefordert, dass ein Widerruf der Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung nach einem ununterbrochen und ordnungsgemässen Aufenthalt von zehn Jahren in der Schweiz nicht mehr möglich ist. Mit Ausnahme von mutwillig herbeigeführter oder mutwillig unveränderter Bedürftigkeit.

Im erläuternden Bericht argumentiert die SPK-N, dass bei dieser Formulierung unklar bleibe, was dies für ausländische Personen bedeutet, die weniger als zehn Jahre in der Schweiz leben und Sozialhilfe beziehen. Es wird betont, dass bereits heute nach geltender Praxis des Bundesgerichts in jedem Einzelfall die Verhältnismässigkeit geprüft werden muss, insbesondere auch die Frage des Verschuldens, dies unabhängig von der jeweiligen Aufenthaltsdauer. Nach Einschätzung der Kommission könnte eine explizite Nennung von zehn Jahren im Gesetz allenfalls sogar negative Konsequenzen für Personen mit einer kürzeren Aufenthaltsdauer haben. Dies weil die Nennung einer Frist, ab wann die Prüfung gemacht werden muss, im Umkehrschluss so interpretiert werden könnte, dass die Frage nach dem eigenen Verschulden für kürzer Anwesende weniger Gewicht hat. Mit dem vorliegenden Vernehmlassungsentwurf soll somit die aktuelle Praxis des Bundesgerichts ins AIG übernommen werden.

Es ist zu begrüssen, dass bei der Formulierung des Vorentwurfs berücksichtigt wurde, dass keine Verschlechterung zur heutigen Rechtslage gewünscht ist. Jedoch ist zu erwähnen, dass mit der vorliegenden Formulierung die Rechtssicherheit für lange Anwesende massgeblich reduziert wird. So sind Menschen, die schon länger in der Schweiz leben, von den Änderungen der AIG-Revision von 2019 besonders betroffen. Einerseits wurde die Aufhebung des Aufenthaltsrechts aufgrund von Sozialhilfebezug vereinfacht, andererseits wurde damit neu die Rückstufung von einer Niederlassungs- auf eine Aufenthaltsbewilligung möglich. Gerade weil sie bereits so lange in der Schweiz leben, ist für sie eine Aufhebung oder Rückstufung der Bewilligung besonders fatal, weil diese im Folgejahr zu einem direkten Entzug der Aufenthaltsbewilligung führen kann.

Weiter würde die Erwähnung einer Schutzfrist von 10 Jahren insbesondere auch mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung übereinstimmen: Der Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Ziff. 1 EMRK beinhaltet, dass sich Ausländer*innen nach einem rechtmässigen Aufenthalt von zehn Jahren in der Schweiz grundsätzlich auf ein Recht auf Verbleib in der Schweiz berufen können (BGE 149 I 66, E. 4.1-4.4). Dementsprechend kann also auch der Widerruf oder die Rückstufung der Bewilligung bei einem Aufenthalt von mehr als 10 Jahren im Sinne der Verhältnismässigkeitsprüfung nur in schweren Fällen des Sozialhilfemissbrauchs möglich sein, wie im ursprünglichen Text der Initiative festgehalten. Somit würde die Nennung einer expliziten Schutzfrist von zehn Jahren diesen länger anwesenden Ausländer*innen die nötige Sicherheit geben und sie könnten im Bedarfsfall die notwendige Sozialhilfe in Anspruch nehmen.

Nichtsdestotrotz ist sicherzustellen, dass auch die Situation für Personen, die weniger als zehn Jahre in der Schweiz leben, verhindert werden muss. Denn auch für Menschen, die beispielsweise fünf oder acht Jahre in der Schweiz leben, ist eine Aufhebung des Aufenthaltsstatus eine massive Bedrohung. Wie eingangs betont, ist die Schaffung von Rechtssicherheit und die Vereinheitlichung der Praxis in den Kantonen zentrales Ziel dieser Gesetzesänderung.

Die DJS bedauert deshalb, dass auf eine Schutzfrist von zehn Jahren verzichtet werden soll. Um trotz dieses Verzichts mehr Rechtssicherheit zu schaffen, braucht es dringend eine höhere Schwelle bei der Verhältnismässigkeitsprüfung, namentlich eine Anpassung der Begrifflichkeit des eigenen Verschuldens. Zudem ist hierbei auch die Praxis der Kantone anzupassen und die Schwelle des Widerrufs einer Bewilligung bei Personen, welche länger als 10 Jahre in der Schweiz sind, deutlich anzuheben in Übereinstimmung mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung.

4.2 Mutwilligkeit statt eigenes Verschulden

 

Wird auf die Festlegung einer Schutzfrist verzichtet, so ist es umso wichtiger, dass bei der Prüfung eines Widerrufs von Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen nicht nur die Verhältnismässigkeit berücksichtigt wird, sondern dass auch die kantonalen Unterschiede vermindert und die Rechtspraxis vereinheitlicht werden. Dies kann durch die Verwendung klar definierter Rechtsbegriffe erreicht werden.

Der Begriff des Verschuldens ist im Armutskontext grundsätzlich problematisch. Denn in der Regel gibt es starke strukturelle Faktoren, die dazu führen, dass eine Person von Armut betroffen ist und die individuellen Handlungsmöglichkeiten sind sehr begrenzt. Gemäss Bundesgericht sind bei den Ursachen des Sozialhilfebezugs Aspekte wie ein Arbeitsplatzverlust, eine schwierige Arbeitssuche, Aus- oder Weiterbildungen, gesundheitliche Probleme oder Krisensituationen (u.a. Scheidung, häusliche Gewalt) zu berücksichtigen. Bezogen auf die Anstrengungen zur Sozialhilfeunabhängigkeit liegt gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts ein eigenes Verschulden erst vor, «wenn in vorwerfbarer Weise das Arbeitspotenzial und die Steuerungsmöglichkeiten zur nachhaltigen Ablösung von der Sozialhilfe über Jahre hinweg unzureichend ausgeschöpft werden».[7]

In der Praxis der Migrationsbehörden wird Verschulden indes oft sehr eng definiert. «Kein Verschulden» wird an einzelnen Gründen wie nachgewiesenen Krankheiten, Erwerbsarmut oder Einelternhaushalten mit Kleinkindern festgemacht. Das führt dazu, dass Menschen, die aus anderen und weniger offensichtlichen Gründen von Armut betroffen sind, grundsätzlich unter Verdacht stehen, nicht genügend dagegen zu unternehmen. Die DJS ist deshalb der Überzeugung, dass es für den einschneidenden und folgeschweren Entscheid zum Ausweisentzug eine höhere Hürde braucht als ein einfaches Verschulden.

In der parlamentarischen Initiative wurde deshalb bewusst anstelle des Verschuldens der präzisere Begriff der Mutwilligkeit verwendet. Gemäss Bundesgericht liegt ein mutwilliges Verhalten dann vor, «wenn die ausländische Person aus Absicht, Böswilligkeit oder Liederlichkeit bzw. Leichtfertigkeit ihren öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Verpflichtungen nicht nachkommt».[8] Mit dem Begriff der Mutwilligkeit soll die Möglichkeit von Ausweisentzügen denn auch auf jene Fälle reduziert werden, die mit Absicht missbräuchlich Sozialhilfe beziehen –sowohl punkto Ursache der Sozialhilfebedürftigkeit als auch punkto Anstrengungen sich von der Sozialhilfe abzulösen. Dies entspricht sowohl der Intention der Gesetzesänderung von 2019 wie auch derjenigen der parlamentarischen Initiative.

Damit die parlamentarische Initiative ihre beabsichtigte Wirkung entfalten kann, fordert die DJS deshalb, den Begriff des eigenen Verschuldens im Gesetzesentwurf durch den der Mutwilligkeit zu ersetzen.

Vorschlag DJS:

 

Art. 62 Abs. 1bis  

1bis Bei der Prüfung eines allfälligen Widerrufs nach Absatz 1 Buchstabe e ist zu berücksichtigen, ob die betroffene Person durch eigenes Verschulden die Sozialhilfeabhängigkeit mutwillig herbeigeführt und ihr Arbeitspotenzial oder andere Möglichkeiten, nachhaltig von der Sozialhilfe unabhängig zu werden, unzureichend genutzt hat oder mutwillig unverändert gelassen hat. 

Art. 63 Abs. 1bis  

1bis Bei der Prüfung eines allfälligen Widerrufs nach Absatz 1 Buchstabe c ist zu berücksichtigen, ob die betroffene Person durch eigenes Verschulden die Sozialhilfeabhängigkeit mutwillig herbeigeführt und ihr Arbeitspotenzial oder andere Möglichkeiten, nachhaltig von der Sozialhilfe unabhängig zu werden, unzureichend genutzt hat oder mutwillig unverändert gelassen hat. 

 

[1] aArt. 10 Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG), SR 142.20.

[2] aArt. 63 Abs. 2 Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (Ausländergesetz, AuG), SR 142.20.

[3] Borrelli, Lisa Marie, Stefanie Kurt, Christin Achermann, and Luca Pfirter. «(Un)Conditional Welfare. Tensions Between Welfare Rights and Migration Control in Swiss Case Law». Swiss Journal of Sociology 47, no. 1, 93 - 114.

[4] Art. 97 Abs. 3 Bst. d AIG, Art. 82d VZAE.

[5] Christin Achermann, Lisa Marie Borrelli, Stefanie Kurt, Doris Niragire Nirere, Luca Pfirter Was geschieht, wenn sich Migrationskontrolle und Sozialhilfe verschränken? kurz und bündig #23, Dezember 2022, einsehbar unter: https://nccr-onthemove.ch/wp_live14/wp-content/uploads/2022/12/PB23_nccr-on-the-move_DE_Web.pdf (08.01.2025).

[6] Siehe Meier, Gisela; Mey, Eva; Strohmeier Navarro Smith, Rahel (2021). Nichtbezug von Sozialhilfe in der Migrationsbevölkerung. 27. August, Hümbelin, Oliver; Elsener, Nadine; Lehmann, Olivier (2023). Nichtbezug von Sozialhilfe in der Stadt Basel, 2016 – 2020. Bericht zuhanden der Sozialhilfe Basel-Stadt. Version vom 29. August, Götzö, Monika; Herzig, Michael; Mey, Eva; Adili, Kushtrim; Brüesch, Nina; Hausherr, Mirjam (2021). Datenerhebung pandemiebedingte, kostenlose Mahlzeiten-, Lebensmittel- und Gutscheinabgaben in der Stadt Zürich. ZHAW, Guggisberg, Jürg; Gerber, Celine (2022). Nichtbezug von Sozialhilfe bei Ausländer/innen mit Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung in der Schweiz. Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS.

[7] Ebd., S.9.

[8] Vgl. u.a. BGer 2C_490/2023 vom 31.05.2024 E. 5.2.