Rückblick

Nach dem wohl emotionalsten Abstimmungskampf, den die Schweiz je erlebt hatte, sagten Volk und Stände am 6. Dezember 1992 nein zum EWR (Europäischer Wirtschaftsraum). Zum Volksmehr fehlten nur etwa 23‘000 Stimmen, zum doppelten Ja des Ständemehrs hingegen rund 700‘000 Stimmen. Die Stimmbeteiligung betrug rekordverdächtige 78,7%. Der 6. Dezember 1992 läutete den Aufstieg der SVP zur wählerstärksten Partei ein. Die Themenführerschaft in der Europapolitik hatten die isolationistischen Rechten unter der Ägide der SVP nie mehr aus der Hand gegeben, doch die EU-Skepsis wuchs seither auch unter den Linken (neoliberale Wirtschafts- und Austeritätspolitik) und in der lateinischen Schweiz (Abbau des Service public). Eine weitere Annäherung drängt sich für die Schweiz zurzeit demnach nicht auf, doch nun macht die EU Druck: Sie fordert die Lösung der sogenannten „institutionellen Frage“, also die Ablösung des schönfärberischen „autonomen“ durch den „automatischen Nachvollzug“ bei der Übernahme des EU- respektive EWR-Rechts. In Streitfällen soll eine supranationale Gerichtsinstanz (EFTA-Gerichtshof als verlängerter Arm des Europäischen Gerichtshofes) entscheiden, wie das gemeinsame Recht auszulegen und anzuwenden sei – beim WTO- oder EMRK-Recht ist diese Praxis übrigens längst gang und gäbe. Dass sich ein Land selbst überwacht, kommt für die EU – insbesondere mit Blick auf ihre Mitglieder, die sich der EU-Rechtsprechung zu unterziehen haben – nicht länger in Frage. Wer den Marktzutritt will, der hat sich auch den gemeinsamen Marktregeln zu beugen, so der Standpunkt der EU, die um die Homogenität ihrer Rechtsordnung besorgt sein muss. Der „bilaterale Weg“, von der Schweiz oft euphemistisch als „Königsweg“ bezeichnet, doch von der EU mehr als Übergangslösung gedacht, erweist sich als Sackgasse. Auf der anderen Seite ist ein EU-Beitritt derzeit nicht mehrheitsfähig. Gibt es einen Weg aus dieser verfahrenen Situation?

Ausblick

Blankart sieht in einem EWR-Beitritt die einzige valable Lösung. Der Beitritt brächte – mit Ausnahme des Agrarsektors – eine umfassende Integration in den Binnenmarkt. Ausgeweitet würde auch das Mitspracherecht bei der Entscheidvorbereitung. Doch dieses „Recht“ vermag den Demokratieverlust nicht aufzuwiegen, der bei einer automatischen Übernahme des EU-Acquis entstünde, so Gross und Rhinow übereinstimmend. Beide sprechen sich damit gegen eine wirtschaftliche Partizipation ohne politische Integration aus. Schon der „autonome Nachvollzug“ sei einer Demokratie unwürdig. Die Schweiz hat in einem ähnlichen Umfang EU-Recht übernommen wie das EU-Mitglied Österreich, ohne aber an den Entscheidungsprozessen beteiligt gewesen zu sein. Unser Land ist längst „Passivmitglied“ der EU, ein EU-Mitglied ohne Stimmrecht (offenbar gibt dieser Demokratie- und Souveränitätsverlust den rechten Isolationisten nichts zu denken). Kein Staat der Welt sei heute mehr souverän, sagt Rhinow, und: „Wo ich nicht mehr autonom entscheiden kann, muss ich alles daran setzen, mitzubestimmen!“ Beim EWR ist dies gerade nicht möglich: Der EWR sei eine „Nicht-Vision“, es fehle die staatspolitische Dimension.

Demokratie lässt sich heute nur transnational bewahren, meint Andreas Gross. Doch wie lässt sich der „Verdrängungsprozess“ (Rhinow) aufbrechen, in welchem sich das Land befindet? Eine rationale Debatte über Europa- und Aussenpolitik sei heute kaum mehr möglich, wundert sich René Rhinow, der der Schweiz einen besorgniserregenden Realitätsverlust attestiert. Wie bringt man die „unangemessenen Einzigartigkeitsvorstellungen“ (Kreis) wieder aus den Köpfen? Dass wir vorgeblich alles besser können, sei auch durch drei Kriege untermauert worden, meint Andreas Gross. Der Souveränitätsbegriff sei zu einem Kampfbegriff verkommen, beklagen die Podiumsteilnehmer unisono, zum Marketinginstrument einer populistischen Bewegung. Der Verhinderungswille konnte auf ein altes ideologisches Reservoir zurückgreifen, an welchem auch progressive Kräfte mitbauten, so Georg Kreis.

Krise der Demokratie

Die Elite habe den Leuten 40 Jahre lang das Falsche gesagt, und eine Mentalität könne man nicht von heute auf morgen ändern, meint Andreas Gross, der an ein Diktum des Aussenpolitikers Ernst Mühlemann erinnert: Politik sei zu 50% Pädagogik. Man müsse wieder damit beginnen, Politik den Leuten zu erklären. Fortschritt sei ein kollektiver Lernprozess, an dem man arbeiten müsse. Zur Sprache kam damit an diesem Abend weitaus mehr als die Frage der Beziehung Schweiz-EU. Zur Sprache kam ein Dilemma, in welchem alle westlichen (Stimmungs-)Demokratien stecken, und welches gerade die weitere Integration der EU selbst betrifft: Wie vermittelt man den Menschen, dass Solidarität im wohlverstandenen Eigeninteresse ist, und dass man in gute Lösungen auch etwas investieren muss? Wie kann man von Politikern erwarten, dass sie Aufklärungsarbeit leisten, dass sie klaren Wein einschenken, wenn sie das Wählerstimmen kostet?

Matthias Bertschinger