Am 7. Juni 2015 zog die prokurdische Partei HDP mit einem Stimmenanteil von 13% ins türkische Parlament ein, womit Recep Tayyip Erdoğan sein erklärtes Ziel einer absoluten Mehrheit im Parlament nicht erreichte. Er antwortete mit einem offenen Angriff auf die politische Opposition. Nach dem Anschlag in Suruç ging die Regierung in die »Antiterror-Offensive« und startete eine – bis heute anhaltende – Repressionswelle gegen die kurdische Autonomiebewegung.

Vor diesem Hintergrund deklarierten verschiedene, mehrheitlich kurdisch besiedelte Quartiere, Dörfer und Städte ihre Selbstverwaltung, worauf seitens der Regierung Ausgangssperren verhängt wurden und Angriffe auf die Zivilbevölkerung erfolgten.

Die DJS, welche gemeinsam mit anderen juristischen Organisationen Europas, seit dem Sommer 2012 den sogenannten »KCK-AnwältInnen-Prozess« beobachten, haben sich Ende Oktober 2015 an einer Delegationsreise nach Diyarbakır und Cizre beteiligt und vor Ort Gespräche mit VertreterInnen verschiedener Organisationen und Angehörigen ziviler Opfer geführt.

Cizre ist eine Kleinstadt im Südosten der Türkei. Gestützt auf vor Ort geführte Gespräche, auf (Medien-)Berichte und die eigenen Wahrnehmungen, kann Folgendes rekonstruiert werden: Am 4. September 2015 um 18:30 wurde eine ab 19.00 Uhr geltende allgemeine Ausgangssperre ausgerufen. In der ganzen Stadt wurden das Handynetz sowie das Internet unterbrochen und in mehreren Vierteln wurde die Infrastruktur zur Strom- und Wasserversorgung zerstört. Lebensmittelgeschäfte mussten geschlossen bleiben und wurden teilweise sogar beschossen, zahlreiche Einschlag- und Einschusslöcher zeugen von einem systematischen Beschuss ganzer Wohnquartiere. Rettungswagen und die örtliche Feuerwehr wurden am Einsatz gehindert, weshalb medizinische Notfälle nicht adäquat betreut werden konnten und ZivilistInnen den erlittenen Verletzungen teilweise erlagen. Leichen konnten meist lange nicht geborgen und erst nach Aufhebung der Ausgangssperre bestattet werden. Die türkische Regierung spricht von schweren Gefechten mit kurdischen RebellInnen und von getöteten PKK-KämpferInnen – der Delegation wurde vor Ort jedoch von 22 zivilen Todesopfern im Alter von 35 Tagen bis 80 Jahren berichtet. Davon wurden mindestens acht gezielt von Scharfschützen erschossen. Üblicherweise wird in der Türkei die Verletzung einer Ausgangssperre mit einer Busse bestraft.

Die Türkei ist Vertragsstaat der vier Genfer Konventionen sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (UNO Pakt II). In Cizre ergab sich das Bild eines systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung unter Missachtung jeglicher Verhältnismässigkeit und menschenrechtlicher Garantien, allen voran des Rechts auf Leben. Den Menschen wurde u.a. der Zugang zu elementaren Gütern und medizinischer Versorgung verunmöglicht, womit aus Sicht der DJS das Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung sowie das Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt wurden. Der Angriff auf Personen, die nicht an Kampfhandlungen beteiligt sind, ist zudem ein grober Verstoss gegen humanitäres Völkerrecht.

Angehörige der Getöteten hatten zusammen mit dem am 28. November 2015 getöteten Menschenrechtsanwalt und Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakir, Tahir Elçi, Anzeige gegen die Verantwortlichen eingereicht. Untersuchungen wurden aber nach unserem Wissensstand bisher keine eröffnet.
Die DJS fordern eine unabhängige Untersuchung und Aufklärung der Verletzungen internationalen Rechts sowie den sofortigen Stopp der Angriffe auf die Zivilbevölkerung und die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen.

Bericht der Delegationsreise und Stellungnahme zur Ermordung des Anwalts Tahir Elçi

Annina Mullis und Melanie Aebli, DJS
Text erschinen im plädoyer 1/2016