Demokratisierung des Rechts – wie weiter ?


von Peter Albrecht, Basel / Riehen (ein Beitrag zur Festschrift 25 Jahre DJS von 2003)

Die Gründung des Vereins "Demokratische Juristinnen und Juristen der Schweiz" (DJS) vor 25 Jahren brachte Bewegung und zugleich Verunsicherung in den (vorwiegend bürgerlich geprägten) Juristenstand. Die Förderung von Reformen, die darauf ausgerichtet sind, Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz zu demokratisieren, bildete das erklärte Ziel in den Statuten. Damit verband sich damals u.a. eine Unterstützung des Abstimmungskampfes gegen die Bundessicherheitspolizei. Ein solches Verständnis von Demokratie erschütterte manche JuristInnen in ihrem (demokratischen?) Selbstverständnis. So sah sich etwa eine renommierte Fachzeitschrift angesichts des neu gegründeten Vereins veranlasst, mit besorgten Worten vor Anarchie und Diktatur zu warnen (ZBJV 114 / 1978, S. 531 f.). Ähnliche Reaktionen erlebte ich auch selber als DJS-Mitglied immer wieder im beruflichten Alltag zu Beginn meiner Tätigkeit als Strafrichter.

 

Inzwischen haben sich freilich die Zeiten verändert und die Emotionen beruhigt. Wir leben derzeit weder in einer Anarchie noch in einer Diktatur. So sind denn die ursprünglich geäusserten Befürchtungen weitgehend verschwunden. Vielmehr haben die DJS im Laufe der Jahre nicht zuletzt dank ihres juristisch fundierten sozialen Engagements breite Anerkennung gefunden. Zumindest werden sie heute auch in Fachkreisen und bei Behörden einigermassen ernst genommen. Davon zeugen zahlreiche Impulse, die in wichtigen Gesetzgebungsvorhaben ihren Niederschlag gefunden haben. Vor allem lässt sich das Magazin "plädoyer" im juristischen Diskurs der Praxis wie auch der Wissenschaft kaum mehr wegdenken. Es hat sich als ein bedeutsames Forum für rechtspolitische Themen etabliert, wo sich auch kritische Stimmen Gehör verschaffen können.

Seit jeher liegt ein Schwerpunkt in der Tätigkeit der DJS beim Strafrecht. Dabei ist es von Anfang an in erster Linie um die Verwirklichung eines Gegengewichts zur staatlichen Übermacht gegangen, indem den durch die Verfassung garantierten Freiheiten in Gesetzgebung und Rechtsanwendung zum Durchbruch verholfen werden soll. Dementsprechend betrifft das zentrale Anliegen der DJS vorab die Rechte der Parteien im Verfahren. Konkret angestrebt werden einerseits ein Ausbau der Verteidigungsrechte der Angeschuldigten und andererseits auch eine Stärkung der prozessualen Stellung der Opfer. Diesbezüglich hat sich in jüngster Zeit die Situation – namentlich im Bereiche des Ermittlungsverfahrens – deutlich verbessert, obwohl die generelle Anerkennung der Forderung nach einer "Verteidigung der ersten Stunde" in der Gesetzgebung immer noch ziemlich weit entfernt ist. Vor allem aber dürfen die erweiterten Mitwirkungsrechte der Parteien während der Strafuntersuchung nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese durch einen zunehmenden Bedeutungsverlust der Hauptverhandlung (samt der unmittelbaren Beweisaufnahme vor Gericht) "erkauft" worden sind. Ein bedenklicher Trend zu "kurzen Prozessen" ist derzeit unverkennbar.

Im Übrigen hat das (materielle) Strafrecht gegenwärtig Hochkonjuktur. Es ist der grosse Hoffnungsträger, das Allheilmittel zur "Lösung" sozialer Probleme geworden und geniesst einen fast unbegrenzten Vertrauensvorschuss. Vom viel gepriesenen Prinzip der "ultima ratio" bleibt da kaum mehr etwas übrig. Tauchen neue gesellschaftliche Konflikte auf, so ertönt vielmehr jeweils rasch der Ruf nach dem Strafgesetzgeber. Zur Unterstützung werden seitens der Politik wechselnde (meistens ziemlich abstrakte und diffuse) Feindbilder projiziert, sei es der internationale Drogenhandel, das organisierte Verbrechen, die Korruption oder – so neuestens – wieder einmal der Terrorismus. Die Legislative entwickelt vor diesem Hintergrund eine populistisch angeheizte Hyperaktivität, oft ohne die Notwendigkeit und Angemessenheit der geplanten Strafbestimmungen vorerst seriös zu prüfen. So werden wir in zunehmend kürzeren zeitlichen Abständen mit flächendeckenden Kriminalisierungsstrategien konfrontiert. Dabei handelt es sich insgesamt um eine stark expandierende, aber zugleich in hohem Masse bloss symbolische Gesetzgebung mit frustrierender Ineffizienz oder gar Kontraproduktivität. Parallel dazu entwickeln sich auf der prozessualen Ebene Tendenzen zu problematischen und kaum kontrollierbaren Ermittlungsmethoden. Dass auf diese Weise verfassungsmässige Grundrechte leicht in Gefahr geraten, versteht sich wohl von selbst, wird indessen offenbar ohne Bedenken in Kauf genommen. Davon betroffen sind – wie mich die langjährige richterliche Erfahrung gelehrt hat – in aller erster Linie gesellschaftliche Aussenseiter und Personen ausländischer Herkunft.

Angesichts solcher neuen rechtspolitischen Herausforderungen wird den DJS weiterhin mehr denn je eine wichtige Funktion zum Schutze sozial benachteiligter Personen zukommen. Allerdings fällt es in den derzeit vorherrschenden politischen Verhältnissen nicht leicht, die anfangs erwähnte statutarische Zweckbestimmung des Vereins zu erfüllen. Für das ebenso hoch gesteckte wie fundamentale Ziel, Rechtsnormen zu demokratisieren, stehen in einer Zeit oberflächlich pragmatischer Rechtspolitik die Verwirklichungschancen nicht gerade günstig. Um so wichtiger ist folglich das verstärkte gemeinsame Engagement für einen liberalen Rechtsstaat.

Gleichzeitig sollten wir vielleicht wieder einmal ganz grundsätzlich darüber nachdenken, was heute – in einem erheblich veränderten gesellschaftlichen Umfeld – als "Demokratisierung des Rechts" überhaupt zu verstehen ist. Wie soll denn eigentlich beispielsweise ein "demokratisiertes" Strafrecht (inkl. Prozessrecht) konkret aussehen? Welche alternativen Konzepte lassen sich hier einer freiheitsbedrohenden Gesetzgebung entgegenhalten? Zwar habe ich persönlich gewisse Vorstellungen dazu; doch im Detail ist mir vieles nicht so klar. Wie auch immer die Antworten ausfallen mögen: Wir werden kreative Impulse der DJS auch in Zukunft dringend benötigen! Deshalb sehe ich jetzt erwartungsvoll den nächsten 25 Jahren entgegen.