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8 mars 2024

Griechenland: Moria 6

Vom 8. bis 12. September 2020 zerstörten mehrere Brände das stark überfüllte Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos vollständig.

Am Samstag, den 12. Juni 2021, verkündete das erstinstanzliche Gericht in Chios sein Urteil: Die Angeklagten wurden wegen Brandstiftung mit der Absicht, Leben zu gefährden, einschließlich Sachbeschädigung, verurteilt; gleichzeitig wurden sie jedoch vom zweiten Delikt, der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, freigesprochen. Nachdem das Gericht alle mildernden Umstände abgelehnt hatte, folgte es dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verurteilte alle vier Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren.

Das ursprünglich für Montag, den 6. März 2023, angesetzte Berufungsverfahren wurde um ein Jahr verschoben.

Das Verfahren

Nicht wie ursprünglich geplant am Montag, den 4. März 2024, aber immerhin am darauffolgenden Mittwoch, begann auf Lesbos der Berufungsprozess gegen 4 der Brandstiftung angeklagten afghanischen Staatsangehörige. Sie verteidigen sich gegen das erstinstanzliche Urteil, in dem sie wegen Brandstiftung im Sektor 12 des ehemaligen und berüchtigten Flüchtlingslagers in Moria zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden waren.

Die von der Verteidigung vor der formellen Eröffnung des Beweisverfahrens vorgebrachten rechtlichen Argumentationen haben viel Zeit in Anspruch genommen. Das Gericht zog sich mehrmals zu Beratungen zurück. Mit dem 3. und letzten Argument war die Verteidigung schliesslich erfolgreich. Es konnte nachgewiesen werden, dass 3 der vier Angeklagten in einem Jugendstrafverfahren hätten verurteilt werden müssen (u.a. konnten afghanische Geburtsurkunden vorgelegt werden). Deshalb war das erstinstanzliche Gericht nicht zuständig, weshalb das erstinstanzliche Urteil in Bezug auf die 3 der 4 derzeit angeklagten Personen aufgehoben wurde. Das Gericht ordnete ihre sofortige Freilassung an. Sie hatten zuvor ca. 3,5 Jahre in Untersuchungshaft verbracht. Es wurde jedoch angeordnet, dass die 3 Angeklagten das Land nicht verlassen dürfen und sich regelmässig bei der Polizei melden müssen (Ersatzmassnahmen).

Ein erster wichtiger Erfolg für die griechischen Anwälte, die sich mit grossem Engagement für ihre Mandanten einsetzen. Das Verfahren gegen den verbleibenden Angeklagten ist noch nicht abgeschlossen. Er plädiert auf nicht schuldig und will das in erster Instanz gegen ihn verhängte Urteil nicht akzeptieren. Die Anwälte wollen dem Berufungsgericht zeigen, dass es keine Beweise für seine Beteiligung an der Brandstiftung gibt.

«Wir sollten wir die unmenschlichen Zustände, die dem Brand im Flüchtlingslager Moria vorausgingen, und die Folgen der europäischen (auch schweizerischen) Asylpolitik niemals vergessen!» sagt Damian Cavarrallo, der den Prozess für die DJS beobachtete.

Der verbliebene Beschuldigte wurde vom Berufungsgericht am 08.03.2024 wegen Brandstiftung (mit der Absicht/mindestens unter Inkaufnahme einer Gefährdung von Leib und Leben) sowie Sachbeschädigung zu einer achtjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Strafmass wurde vom Berufungsgericht gegenüber dem erstinstanzlichen Urteil um zwei Jahre reduziert.

Beobachtungen und Kommentar

Wie schon das erstinstanzliche Verfahren auf der griechischen Insel Chios konnte auch der Berufungsprozess in Lesbos – nach Auffassung des Prozessbeobachters – dem menschenrechtlich geschützten Anspruch auf ein faires Verfahren nicht gerecht werden. Die Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung des Gerichts werfen zahlreiche Fragen auf. Das Urteil basiert vorderhand auf einer unspezifisch anmutenden Zeugenaussage, welche ein ehemaliger Bewohner des Flüchtlingslagers Moria im Nachgang zum Brand auf dem Polizeiposten in Mytilini zu Protokoll gegeben habe, ohne dass er von der Polizei zu einer Befragung vorgeladen worden wäre.

Den Beschuldigten (Moria 6) wurde jedenfalls weder im Untersuchungsverfahren noch im erst- oder zweitinstanzlichen Gerichtsverfahren je die Möglichkeit eingeräumt, den Belastungszeugen mit Fragen zu konfrontieren. Insofern bleibt auch unklar, ob der Belastungszeuge bei einer Gegenüberstellung mit den Beschuldigten deren Täterschaft bestätigen würde. Seine Zeugenaussage zur Chronologie der Geschehnisse steht ferner im Widerspruch zu den forensischen Erkenntnissen zur Brandentstehung und zum Verlauf desselben. Der Verbleib des Belastungszeugen ist unbekannt; die Staatsanwaltschaft behauptet, man habe erfolglos zahlreiche Versuche unternommen, den Kontakt herzustellen und ihn als Zeugen vorzuladen. Wie intensiv man seitens der griechischen Justiz tatsächlich nach dem Zeugen gesucht hat, muss noch in Erfahrung gebracht werden.