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Gaza: Schweizer Untätigkeit ist nicht neutral

Der Vorstand der Demokratischen Jurist*innen Schweiz wendet sich heute, angesichts der seit langem eskalierenden Situation in Gaza und der Lage in den gesamten besetzten palästinensischen Gebieten [1] mit tiefster Besorgnis an den Bundesrat.

Wir fordern den Bundesrat auf, die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz endlich wahrzunehmen und zu handeln, sich für einen sofortigen Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln einzusetzen, die Begehung weiterer internationaler Verbrechen zu verhindern oder begangene Völkerstraftaten rechtlich zu verfolgen. Insbesondere in den letzten Wochen wurde diese Forderung immer lauter und es haben Sie bereits verschiedene Aufrufe zur Einhaltung des Völkerrechts erreicht, denen Sie bisher nicht gefolgt sind.[2] Wir sehen uns in unserer juristischen Verantwortung dazu verpflichtet, diese Rufe und Forderungen zu wiederholen und die Schweiz an ihre rechtlichen Pflichten zu erinnern:

Der gemeinsame Artikel 1 der Genfer Konventionen von 1949 verpflichtet alle Vertragsparteien, die Konventionen «unter allen Umständen einzuhalten» sowie deren «Einhaltung durchzusetzen», was die Pflicht zur Verhinderung schwerer Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht einschliesst. Ebenso verpflichtet Artikel I der Genozid-Konvention von 1948 die Vertragsstaaten, Völkermord zu verhindern und zu bestrafen. Dass es sich um einen Völkermord handelt, haben inzwischen sowohl mehrere, auch israelische, Menschenrechtsorganisationen, zahlreiche Völkerrechtler*innen und Genozidforscher*innen, und auch die International Association of Genocide Scholars (IAGS), bestätigt. Am 16. September 2025 hat auch die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission der UNO für das besetzte palästinensische Gebiet, einschliesslich Ostjerusalem, und Israel in einem Bericht erklärt[3], dass Israel einen Genozid begeht. Die gut dokumentierte strukturelle Gewalt, die flächendeckenden Tötungen, die schweren körperlichen und geistigen Schädigungen, die Blockaden der humanitären Hilfe, die Zerstörung essentieller Infrastruktur, das Aushungern lassen, die Vertreibungen und die von Anfang an geführte Rhetorik der israelischen Regierung belegen den Zerstörungswillen.[4]

Der Internationale Gerichtshof (International Court of Justice, ICJ) hat in seinem Urteil vom 26. Februar 2007 in der Rechtssache Application of the Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (Bosnia and Herzegovina v. Serbia and Montenegro) festgehalten, dass die Staaten verpflichtet sind, alle ihnen zur Verfügung stehenden rechtlichen, diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Mittel einzusetzen, um Völkermord zu verhindern, auch wenn die Handlungen nicht auf ihrem eigenen Hoheitsgebiet begangen werden.

Die Pflicht der Staatengemeinschaft zur Verhinderung internationaler Verbrechen wurde vom ICJ in seinem Gutachten vom 19. Juli 2024 zu den rechtlichen Folgen der Politik und der Praktiken der israelischen Regierung in den besetzten palästinensischen Gebieten bekräftigt. Hier kam der Gerichtshof zum Schluss, dass die fortdauernde Präsenz Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten völkerrechtswidrig ist, und schloss daraus, dass Israel diese rechtswidrige Präsenz so schnell wie möglich beenden muss. Der Gerichtshof betonte ferner, dass alle Staaten und internationalen Organisationen, einschliesslich der Vereinten Nationen selbst, verpflichtet sind, die durch die rechtswidrige Präsenz Israels entstandene Situation nicht anzuerkennen und keine Hilfe oder Unterstützung zu leisten, die zu ihrer Aufrechterhaltung beitragen würde. Diese Verpflichtungen – Nichtanerkennung, Nichtunterstützung und die Pflicht zur Verhinderung – sind unmittelbar anwendbar in Fällen schwerer Verstösse gegen das Völkerrecht, einschliesslich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.

Hinzu kommen die vorläufigen Massnahmen, die der ICJ im Fall South Africa v. Israel (2024) angeordnet hat und die Israel u.a. dazu verpflichten, Völkermord zu verhindern und den Zugang für humanitäre Hilfe zum Gazastreifen zu gewährleisten. Auch alle anderen Vertragsstaaten trifft die Pflicht, diese verbindlichen Massnahmen unverzüglich umzusetzen. Darüber hinaus hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (International Criminal Court, ICC) Haftbefehle gegen hochrangige israelische Beamte beantragt wegen mutmasslicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die seit Oktober 2023 in Gaza begangen worden seien.

Mit der weitreichenden Bombardierung des Gazastreifens ohne (genügenden) Schutz der Zivilbevölkerung; der mutmasslich systematischen Zerstörung lebenswichtiger ziviler Infrastruktur; der anhaltenden Blockade der Einfuhr humanitärer Hilfsgüter und der daraus resultierender Aushungerung der Bevölkerung; dem gezielten Angriff auf Journalist*innen begehen die israelische Regierung und das Militär vor den Augen der Weltbevölkerung – und bisher völlig straffrei – internationale Verbrechen.

In der aussenpolitischen Strategie der Schweiz 2024-2027 wird diese als «international anerkannte Fürsprecherin für das Völkerrecht» dargestellt. Weiter seien die Einhaltung und Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts als Grundlage für den Schutz der Zivilbevölkerung prioritäre Anliegen der Schweiz «als Depositarstaat der Genfer Konventionen». Im Zentrum der Abteilung Frieden und Menschenrechte des EDA stehen «die Sicherheit des Einzelnen und sein Schutz vor Gewalt, Krieg und Willkür».[5] Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund muss die Schweiz nun unverzüglich alle nach dem Völkerrecht zur Verfügung stehenden Massnahmen ergreifen, um ihrer positiven Verpflichtung zur Verhütung schwerer Völkerstraftaten nachzukommen. Ein Versäumnis – trotz der rechtlichen und materiellen Handlungsfähigkeit – verstösst nicht nur gegen die in verbindlichen, internationalen Instrumenten verankerte Pflicht zur Verhütung etwa von Völkermord, sondern kann auch eine internationale Verantwortung wegen Beihilfe nach Artikel 16 des Entwurfs der Artikel über die Verantwortlichkeit von Staaten (ASR) begründen. Darüber hinaus legt das Römer Statut des ICC in den Artikeln 25 und 28 die individuelle strafrechtliche Verantwortung nicht nur derjenigen fest, die internationale Verbrechen direkt begehen, sondern auch derjenigen, die ihre Begehung durch materielle, finanzielle oder logistische Unterstützung fördern oder unterstützen. Diese Verantwortung erstreckt sich auf alle natürlichen Personen, die in Kenntnis der Umstände die Begehung von Völkerstraftaten nach dem Römer Statut erleichtern – darunter fallen auch Vertreter von Unternehmen oder Angehörige von Bildungsinstituten, die mit dem israelischen Militär kooperieren oder in anderer Weise den Krieg in Gaza respektive die Besetzung der palästinensischen Gebieten begünstigen. Ergänzend verankern die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte (2011) zum einen die staatliche Pflicht, die Menschenrechte auch vor Einwirkungen Dritter zu schützen; und zum anderen das Recht auf Wiedergutmachung, wenn wirtschaftliche Akteur*innen Menschenrechte verletzt haben. In diesem Sinne muss die Schweiz für die wirksame Durchsetzung dieser Verpflichtungen gegenüber hiesigen Unternehmen und Bildungsinstitutionen sorgen, insbesondere wenn das Verhalten Schweizer Akteur*innen zur Aufrechterhaltung eines Regimes beiträgt, das systematisch Völker(straf)recht verletzt.

Als Depositarstaat der Genfer Konventionen und als Sitz des UNO-Menschenrechtsrates trägt die Schweiz eine besondere Verantwortung. Ihre bisherige Untätigkeit – die auch von ehemaligen Diplomat*innen[6] und über 200 Mitarbeitenden des EDA scharf kritisiert wird[7] – ist inakzeptabel und muss sofort enden: Die Pflicht zur Verhinderung von Völkerstraftaten ist eine eigenständige Pflicht und nicht territorial begrenzt. Angesichts der Schwere der Verbrechen in Gaza und den gesamten besetzten palästinensischen Gebieten sowie der klaren völkerrechtlichen Verpflichtungen fordern wir den Bundesrat auf, die folgenden Massnahmen unverzüglich und entschlossen zu ergreifen, um die Einhaltung des Völkerrechts zu gewährleisten und ihre Schutzpflicht gegenüber der palästinensischen Bevölkerung zu erfüllen:

  • Unverzügliche Förderung und Finanzierung dringender Zivilschutz- und humanitärer Hilfsmassnahmen in Gaza inklusive des sicheren und sofortigen Zugangs zu Nahrung, Wasser, Medikamenten, Treibstoff, Unterkünften und Gesundheitsdiensten gemäss dem humanitären Völkerrecht.
  • Unverzügliche Einstellung jeglichen Handels mit Waffen, militärischen Komponenten und Dual-Use-Technologien sowie Aussetzung aller militärischer und geheimdienstlicher Kooperation mit Israel sowie industrieller, technologischer, wissenschaftlicher und akademischer Zusammenarbeit mit Institutionen in Israel, welche die zur Verletzung des Völker(straf)rechts beiträgt.
  • Zusammenarbeit mit dem ICC zur Umsetzung der betreffend die aktuelle Situation in Gaza erlassenen Haftbefehle sowie Ausschöpfung aller Möglichkeiten der universellen Gerichtsbarkeit für die Strafverfolgung in der Schweiz inklusive aktiver Abklärung bei der Einreise israelischer Staatsangehöriger betreffend ihrer allfälligen Rolle innerhalb der israelischen Sicherheitskräften oder während des Militärdienstes, Verbindungen zum Siedlungswesen oder politischen Funktionen.
  • Unverzügliche Anerkennung des Staates Palästina im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung.
  • Verabschiedung wirtschaftlicher, finanzieller und politischer Sanktionen gegen alle öffentlichen oder privaten Einrichtungen, welche die Siedlungspolitik, einschliesslich der neuen Siedlungspläne, inklusive der präzisen Kennzeichnung aller Produkte, die in die Schweiz importiert werden, die aus den Siedlungen stammen.
  • Unverzügliche Durchsetzung der Unternehmensverantwortung für Schweizer Unternehmen, die innerhalb des besetzten palästinensischen Gebiets tätig oder kommerzielle, technologische oder finanzielle Beziehungen zu Akteur*innen unterhalten, die an internationalen Verbrechen beteiligt sind.

Die Schweiz kann und darf nicht länger untätig bleiben: Das Völkerrecht erlaubt nicht nur ein Handeln – es fordert es. Angesichts gut dokumentierter internationaler Verbrechen ist Untätigkeit keine Neutralität, sondern Mitverantwortung.

Wir fordern den Bundesrat deshalb auf, seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen mit Entschlossenheit, Dringlichkeit und Konsequenz nachzukommen, indem er alle notwendigen Massnahmen ergreift, um die im Gazastreifen und in den besetzten palästinensischen Gebieten begangenen internationalen Verbrechen zu verhindern, zu bestrafen und wiedergutzumachen

Den Brief an den Bundesrat finden Sie hier

 

[1] Die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober 2023 stellen einen schweren Verstoss gegen das humanitäre Völkerrecht dar und spielen eine wichtige Rolle im Kontext des aktuellen Konflikts. Diese Verbrechen verdienen uneingeschränkte Verurteilung. In dieser Stellungnahme fokussieren die DJS auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz im Kontext der israelischen Besetzung Palästinas sowie im Hinblick auf die israelische Kriegsführung in Gaza und die Verantwortung der Schweiz zur Verhinderung und Ahndung von Völkermord. Diese völkerrechtlichen Verpflichtungen bestehen unabhängig von den Angriffen der Hamas vom 7. Oktober 2023.

[2] Siehe den offenen Brief an den Bundesrat von 31 Professor*innen für Völkerrecht und Völkerstrafrecht vom 12. August 2025, abrufbar unter: www.unifr.ch/ius/besson/fr/assets/public/Chaire/pdf/Palestine_lettre_professeurs_110825-version-bilingue.pdf;in einem kollektiven offenen Brief vom 9. August 2025 haben auch schon einige Mitglieder der DJS den Bundesrat aufgefordert, endlich aktiv zu werden und seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, abrufbar unter: https://jvjp.ch/wp-content/uploads/2025/08/Kollektiver-Offener-Brief-an-BR-08.2025.pdf.

[3] www.ohchr.org/en/press-releases/2025/09/israel-has-committed-genocide-gaza-strip-un-commission-finds.

[4] Our Genozide, B'Tselem, Juli 2025, abrufbar unter https://www.btselem.org/sites/default/files/publications/202507_our_genocide_eng.pdf;  IAGS Resolution on the Situation in Gaza, International Association of Genocide Scholars, 31.08.2025, abrufbar unter https://genocidescholars.org/wp-content/uploads/2025/08/IAGS-Resolution-on-Gaza-FINAL.pdf., We Could Have Saved So Many More”: Anguish and Death Caused by Israel’s Restrictions on Medical Supplies in Gaza​, Physicians for Human Rights, 09.06.2005, abrufbar unter https://phr.org/our-work/resources/we-could-have-saved-so-many-more-anguish-and-death-caused-by-israels-restrictions-on-medical-supplies-in-gaza/.

[5] Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA, Abteilung Frieden und Menschenrechte, abrufbar unter www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/organisation-deseda/staatssekretariat/abteilung-menschlichesicherheit.html.

[6] Schweiz allzu neutral, Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik, Juni 2025, abrufbar unter www.aussenpolitik.ch/schweiz-allzu-neutral/.

[7] Aufstand im EDA wegen Gaza: Über 200 Mitarbeitende kritisieren Cassis hart, Anja Burri und Larissa Rhyn, im Tagesanzeiger vom 05.06.2025, abrufbar unter www.tagesanzeiger.ch/cassis-und-gaza-diplomaten-kritisieren-schweizer-nahost-kurs-939307861576.