Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (Anwesenheitspflicht in Camps, neuer Haftgrund, Ausweitung Einreiseverbot, Zugriff auf persönliche Daten)
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1. Das Wichtigste in Kürze
Anwesenheitspflicht in der Unterkunft: unverhältnismässiger Grundrechtseingriff
Neu soll zur Sicherstellung des Wegweisungsvollzugs eine Anwesenheitspflicht in der Unterkunft angeordnet werden können (maximal sechs Stunden pro Tag für die maximale Dauer von jeweils einem Monat). Zudem soll die Nichteinhaltung der Anwesenheitspflicht zu einem neuen Hafttatbestand für Ausschaffungshaft oder Dublinhaft führen. Bei dieser Zwangsmassnahme handelt es sich um einen einschneidenden Grundrechtseingriff (Freiheitsbeschränkung oder gar Freiheitsentzug), ohne dass die Person ein strafrechtlich relevantes Verhalten zeigt. Die DJS lehnt die geplante Anwesenheitspflicht vehement ab. Falls die Bestimmung trotzdem eingeführt wird, soll die Anwesenheitspflicht höchstens in begründeten Einzelfällen als effektive Alternative zur Ausschaffungshaft unter Wahrung der Verhältnismässigkeit und mit einer Beschwerdemöglichkeit die eine aufschiebende Wirkung hat, angeordnet werden können. Die DJS erachtet es aufgrund des Legalitätsprinzips als notwendig, dass die für den Eingriff nötigen Voraussetzungen auf Verordnungsebene präzisiert werden. Gemäss Vorlage soll bei Nichteinhaltung der Anwesenheitspflicht Ausschaffungshaft oder Dublinhaft angeordnet werden können. Die DJS lehnt diesen neuen Hafttatbestand klar ab.
Heikle Erweiterung der Zugriffsberechtigungen auf die Datenbanken ZEMIS und eRetour
Die Vorlage sieht eine Erweiterung der Zugriffberechtigungen auf die Datenbanken ZEMIS und eRetour vor. Die DJS wertet die geplante Erweiterung des Datenzugriffs als nicht mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip vereinbar, insbesondere nicht, wenn es um besonders schützenswerte Daten geht. Die DJS fordert deshalb, dass die Vorlage vorgängig vom Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) geprüft, beurteilt und gutgeheissen werden muss und erwartet, dass der Datenschutz der Betroffenen sowie die Verhältnismässigkeit jederzeit gewahrt bleiben. Insbesondere ist unmissverständlich zu bezeichnen, wer auf welche Informationen und unter welchen Voraussetzungen Zugriff erhalten dar.
2. Ausweitung der Betreuungspflicht von Luftverkehrsunternehmen gegenüber von ihnen beförderten Personen
Gemäss Art. 93 Abs. 1 VE-AIG sollen Luftverkehrsunternehmen neu nicht nur bei verweigerter Einreise, sondern auch bei verweigerter Durchreise durch die internationalen Transitzonen der Flughäfen die von ihnen beförderten Personen betreuen. Darunter fällt die Pflicht, Passagierinnen und Passagiere, denen die Einreise in den Schengen-Raum verweigert wird, unverzüglich von der Schweiz zurück in den Herkunfts- oder Aufnahmestaat oder in den Staat, der die Reisedokumente ausgestellt hat, zu befördern.
Die DJS weist darauf hin, dass die Schweiz als Signatarstaat der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet ist, das Recht um Asyl zu ersuchen, zu gewährleisten. Die DJS fordert, dass alle Personen jederzeit und uneingeschränkt die Möglichkeit haben müssen, um Schutz zu ersuchen, und sodann Zugang zum Asylverfahren erhalten. Dieser uneingeschränkte Zugang zum Asylverfahren muss ebenfalls am Flughafen gewährleistet sei.
3. Anwesenheitspflicht in der Unterkunft im Rahmen des Wegweisungsvollzugs sowie bei deren Nichteinhaltung neuer objektiver Hafttatbestand für Ausschaffungshaft und Dublinhaft
Neu soll eine Anwesenheitspflicht von maximal sechs Stunden pro Tag für die maximale Dauer von jeweils einem Monat angeordnet werden können zur Sicherstellung des Vollzugs einer rechtskräftigen Weg- oder Ausweisung oder Landesverweisung für Personen, die ihrer Ausreisepflicht nicht nachgekommen und innerhalb der angesetzten Ausreisefrist nicht ausgereist sind. Diese Massnahme dient der Sicherstellung der notwendigen Anwesenheit der betroffenen Person im Hinblick auf die Abklärungen zur Identität oder die Beschaffung von Reisedokumenten und zur Organisation der Ausreise. Gegen die Anordnung der Anwesenheitspflicht kann bei einer kantonalen richterlichen Behörde Beschwerde geführt werden, wobei diese keine aufschiebende Wirkung hat (Art. 73a VE-AIG). Gemäss EJPD sei es notwendig, dass die wegzuweisende Person beispielsweise für Botschaftszuführungen, zentrale Befragungen durch ausländische Delegationen, Befragungen durch die Vollzugsbehörden und schliesslich auch für die Organisation der Ausreise zur Verfügung stehe.[1]
Zudem soll die Nichteinhaltung dieser Anwesenheitspflicht zu zwei neuen Hafttatbeständen führen: Einerseits soll bei Nichteinhaltung dieser Anwesenheitspflicht und wenn die betroffene Person den Vollzug einer Weg- oder Ausweisung oder einer Landesverweisung verhindert eine Ausschaffungshaft angeordnet werden können; in Art. 76 Abs. 1 Bst. b Ziff. 6 VE-AIG wird ein neuer objektiver Hafttatbestand für die Ausschaffungshaft geschaffen. Andererseits soll die Nichteinhaltung der geplanten Anwesenheitspflicht auch betreffend Dublinhaft unter Art. 76a Abs. 2 Bst. k VE-AIG zu einem weiteren Untertauchensgrund bzw. Haftgrund führen, wenn die betroffene Person bereits einmal die Durchführung einer Überstellung in den zuständigen Dublin-Staat verhindert hat
3.1 Unklare und unverhältnismässige Freiheitsbeschränkung bzw. gar Freiheitsentzug
Die Anwesenheitspflicht in der Unterkunft bedeutet einen Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Person, nämlich in ihre Bewegungsfreiheit. Es handelt sich um eine Freiheitsbeschränkung oder gar um einen Freiheitsentzug.[2] Die DJS lehnt diese Massnahme klar ab. Damit wird eine – neue und zusätzliche – Zwangsmassnahme geschaffen, die zu einer Einschränkung oder sogar zum Entzug der Freiheit führt. Ebenfalls lehnt die DJS die neuen Hafttatbestände ab, da diese sowie auch erstere angesichts der bestehenden Zwangsmassnahmen überflüssig sind (siehe unten Ziff. 6.2.5).
Falls die Anwesenheitspflicht trotzdem eingeführt wird, soll sie höchstens als effektive Alternative zur Ausschaffungshaft angeordnet werden dürfen. Denn eine Anwesenheitspflicht in der Unterkunft ist klar zu bevorzugen, wenn damit die Anordnung von Ausschaffungshaft vermieden werden kann. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anwesenheitspflicht ausschliesslich in begründeten Einzelfällen als effektive Alternative zur Ausschaffungshaft angeordnet wird. Dabei muss zudem das Verhältnismässigkeitsprinzip gewahrt werden, d.h. die Anordnung sowie die Art und Weise der Anwesenheitspflicht sind auf das Nötigste zu beschränken, und bei Freiheitsentzug muss ein Haftgrund vorliegen. Die nachfolgenden Ausführungen enthalten die einzelnen Anforderungen.
Grundrechtseingriffe müssen gemäss Art. 36 der Bundesverfassung (BV) nebst anderen Voraussetzungen auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen und verhältnismässig sein. Ein Grundrechtseingriff ist verhältnismässig, wenn der Eingriff geeignet und nötig ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen, d.h. kein milderes Mittel zur Verfügung steht. Zudem muss eine Abwägung der Interessen des Staates und jener der betroffenen Person erfolgen, welche nicht in einem Missverhältnis stehen dürfen (Verhältnismässigkeit im engeren Sinn; siehe auch Art. 5 Abs. 2 BV). Dies bezieht sich sowohl auf eine Freiheitsbeschränkung (Art. 10 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 36 BV) als auch auf einen Freiheitsentzug. Für den Freiheitsentzug wird zusätzlich verlangt, dass ein Haftgrund vorliegt (Art. 31 BV, siehe auch Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK]). Zudem sind die Anforderungen an die Normdichte höher.[3
3.2 Unklare Ausgestaltung der Anwesenheitspflicht
Die Vernehmlassungsunterlagen enthalten keine Einzelheiten dazu, wie die Anwesenheitspflicht genau ausgestaltet werden soll. Dem erläuternden Bericht ist einzig zu entnehmen, dass die Anordnung der Massnahme grundsätzlich bei allen Unterbringungsstrukturen (Wohnung, Nothilfezentrum usw.) möglich sei. Die betroffene Person könne somit weiterhin in ihrem bisherigen Umfeld verbleiben.[4
Es bleiben namentlich folgende Fragen ungeklärt:
- Was fällt unter den in Abs. 1 von Art. 73a VE-AIG als Zweck der Anwesenheitspflicht aufgeführten Begriff «Organisation der Ausreise»?
- Wie wird die Dauer der Anwesenheitspflicht bestimmt?
- Welche Stunden sind jeweils betroffen? Konkret jene Stunde(n) unmittelbar vor einer Vollzugsmassnahme bzw. Behördentermin, Bürozeiten der Behörden oder generell bzw. zufälligerweise sechs Stunden während des Tages?
- Wie verhält sich die Handhabung bei Kindern und anderen vulnerablen Personen (z.B. hohes Alter und Gebrechlichkeit, physische/psychische Krankheiten, Schwangerschaft)?
- Wo genau muss sich die betroffene Person während der Anwesenheitspflicht aufhalten (persönliches Zimmer, spezifisch zugewiesenes Zimmer, Unterkunft, Aussenbereich der Unterkunft etc.)?
- Wie wird sichergestellt, dass die betroffene Person die Unterkunft nicht verlässt? Beispielsweise mittels Ausgangssperre, welche das – je nach Unterkunft anwesende – Sicherheitspersonal beim Ein-/Ausgang abfragt?
- Wer beurteilt gestützt worauf (Beweismittel, Indizien), ob die Anwesenheitspflicht verletzt ist?
- Ab wann gilt die Anwesenheitspflicht als verletzt?
- Wer genau ordnet die Anwesenheitspflicht an, auf welche Art und was beinhaltet sie konkret (schriftlich, mündlich, Begründung, Rechtsmittelbelehrung)?
Ohne diese Angaben kann nicht beurteilt werden, ob es sich bei der Anwesenheitspflicht generell und im Einzelfall um eine Freiheitsbeschränkung oder gar einen Freiheitsentzug handelt. Im erläuternden Bericht ist keine Einteilung des Grundrechtseingriffs unter Freiheitseinschränkung oder Freiheitsentzug enthalten. Diese Unterscheidung ist jedoch relevant, weil die Voraussetzungen für die beiden Eingriffe unterschiedlich sind. Beim Freiheitsentzug muss insbesondere ein zulässiger Haftgrund vorliegen, ansonsten die Freiheitseinschränkung unzulässig ist.[5]
Die geplante Anwesenheitspflicht bzw. der damit verbundene Grundrechtseingriff erweist sich bereits deswegen als rechtswidrig und inbs. nicht mit den völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Grundsätzen vereinbar. Hinzu kommt, dass auch im geplanten Art. 73a VE-AIG die für einen Grundrechtseingriff nötigen Präzisierungen fehlen, so etwa der Ort, wo sich die Person aufhalten muss, was unter «Organisation der Ausreise» fällt oder eine Ausnahme für vulnerable Personen. Daher fehlt die für einen Grundrechtseingriff nötige und genügend präzise gesetzliche Grundlage. Weitere Präzisierungen müssen daher mindestens auf Verordnungsstufe erfolgen
3.3 Unverhältnismässige Anwesenheitspflicht
Angewendet auf die geplante Anwesenheitspflicht bedeuten die obgenannten Voraussetzungen, dass erstens nachgewiesen werden muss, dass die Anwesenheitspflicht geeignet ist, die Verfügbarkeit der Person bzw. den Weg- oder Ausweisungsvollzug sicherzustellen und umgekehrt auch, dass die Person ansonsten nicht zur Verfügung stehen würde. Ein Generalverdacht darf somit nicht genügen, um eine Anwesenheitspflicht anzuordnen. Einzig die Tatsache, dass eine Person nicht selbstständig ausgereist ist und die Ausreisefrist verpasst hat, reicht daher nicht aus für die zulässige Anordnung einer Anwesenheitspflicht. Insbesondere nicht, da Personen im Rahmen des Dublin-Verfahrens behördlich überstellt werden müssen und nicht selbständig ausreisen dürfen. Andernfalls könnte bei zahlreichen Personen eine Anwesenheitspflicht – pauschal – angeordnet werden.[6] Vielmehr sind weitere konkrete Hinweise auf unkooperatives Verhalten oder eine Verletzung der Mitwirkungspflicht nötig, entweder in der Vergangenheit oder genügend absehbar in der Zukunft. D.h. die anordnende Behörde muss aufzeigen, dass die Person mehrere Termine, z.B. zur Identitätsabklärung, nicht wahrgenommen oder einer anderen Vollzugshandlung nicht nachkommen ist. Sollte der Grundrechtseingriff so stark sein, dass es sich um einen Freiheitsentzug handelt, müsste zudem ein Haftgrund vorliegen. Auf keinen Fall darf eine Anwesenheitspflicht vorsorglich angeordnet werden.
Zudem sind die Anordnung und insbesondere die Hinweise darauf, dass die Person sich der Vollzugshandlung entziehen will, in der Anordnung rechtsgenüglich und individuell zu begründen sowie den betreffenden Personen mittels eines Dolmetschers zu erklären.
Zweitens muss die geplante Anwesenheitspflicht die Anforderungen an die Notwendigkeit erfüllen, d.h. es dürfen keine milderen Mittel zur Verfügung stehen, um den Vollzug sicherzustellen. Die Erklärung in der Vorlage, die Anordnung einer Anwesenheitspflicht stelle im Vergleich zu den übrigen Zwangsmassnahmen nach Artikel 73 ff. AIG eine mildere Massnahme dar,[7] mag zwar stimmen; sie reicht jedoch nicht aus, um die Anwesenheitspflicht als verhältnismässig zu begründen, denn verlangt wird nicht, dass die Massnahme, d.h. der Grundrechtseingriff, im Vergleich zu anderen Massnahmen milder ist, sondern dass es keine milderen Massnahmen gibt. Eine Anordnung darf daher nur erfolgen, wenn die Anwesenheit der Person zwingend nötig ist und der Weg- bzw. Ausweisungsvollzug nicht anders gewährleistet werden kann, etwa mittels bereits möglicher Unterschriftenpflicht, Leistung einer finanziellen Sicherheit oder Hinterlegung von Identitätsdokumenten als «Pfand» (Art. 64a AIG) sowie durch Anordnung einer Ein- oder Ausgrenzung (Art. 74 AIG). Nebst der Anordnung selbst muss auch die Ausgestaltung der Anwesenheitspflicht dem Verhältnismässigkeitsprinzip entsprechen. Daher fordert die DJS, dass die Anwesenheitspflicht pro Person höchstens einmal angeordnet werden darf. Statt vorgesehen sechs, soll die Anwesenheitspflicht maximal zwei Stunden pro Tag dauern und dies während maximal einer Woche. Diese Zeitfenster reichen aus, damit die betroffene Person für eine Vollzugshandlung wie einen Behördentermin verfügbar ist: Entweder kann die Anwesenheitspflicht zeitlich auf einen bereits bestehenden Termin angepasst werden oder aber der Termin wird an die bereits angeordnete Anwesenheitspflicht angepasst.
Im Weiteren ist die Frage, ab wann die Anwesenheitspflicht als verletzt gilt, verhältnismässig zu beurteilen, d.h. nicht bereits nach wenigen Minuten Verspätung und insbesondere unter Einbezug der konkreten, allenfalls entschuldbaren Umstände.
Drittens sind unter dem Aspekt der Verhältnismässigkeit im engeren Sinn die betroffenen Interessen gegeneinander abzuwägen, d.h. jene des Staates am erfolgreichen Weg- und Ausweisungsvollzug sowie auf der anderen Seite das Grundrecht der betroffenen Person auf Bewegungsfreiheit. Hier gilt es u.a. mitzuberücksichtigen, dass die betroffenen Personen mehrheitlich Notunterkünften zugewiesen sind. Diese bieten generell bereits wenig Freiraum und befinden sich vereinzelt sogar untertags. Zudem besteht je nachdem eine Anwesenheitspflicht während der Nacht und regelmässig eine Unterschriftenpflicht, um die Anwesenheit täglich zu überprüfen. Angesichts dessen ist die vorgesehene – zusätzliche – Anwesenheitspflicht umso einschneidender und belastender und darüber unnötig. Vulnerable Personen wie Kinder, (psychisch oder physische) kranke Personen, alte und gebrechliche Personen oder schwangere Personen müssen daher von der Anwesenheitspflicht ausgenommen sein
3.4 Unnötige neue Hafttatbestände für Ausschaffungs- und Dublinhaft
Aus Sicht der DJS genügen die bestehenden Hafttatbestände für die Ausschaffungshaft und die Dublinhaft. Die beiden neuen Hafttatbestände in Art. 76 Abs. 1 Bst. b Ziff. 6 VE-AIG und Art. 76a Abs. 2 Bst. k VE-AIG sind daher ausnahmslos zu streichen.
Sollten sie dennoch beibehalten werden, ist Folgendes zu beachten: Die beiden neuen Hafttatbestände in Art. 76 Abs. 1 Bst. b Ziff. 6 VE-AIG und Art. 76a Abs. 2 Bst. k VE-AIG setzen voraus, dass die Person «den Vollzug einer Weg- oder Ausweisung oder einer Landesverweisung verhindert» bzw. «bereits einmal die Durchführung einer Überstellung in den zuständigen Dublin-Staat verhindert» hat. Dies bedeutet, dass für die Anwendung des jeweiligen Hafttatbestandes vorausgesetzt wird, dass die Person die geplante eigentliche Wegweisung/Ausweisung/Überstellung (d.h. Transport zum Flughafen sowie der Flug) verhindert haben muss, indem sie nicht anwesend war in der Unterkunft. D.h. umgekehrt, dass wenn eine Person die Anwesenheitspflicht missachtet und dadurch («lediglich») z.B. eine Identitätsabklärung oder einen Botschaftstermin verpasst, noch kein Hafttatbestand für Ausschaffungs- und Dublinhaft vorliegt. Dies sollte aus Sicht der DJS in den Gesetzesbestimmungen präzisiert werden.
3.5 Fazit
Die DJS beurteilt die geplante Anwesenheitspflicht in der Unterkunft äusserst kritisch, da es sich bei dieser weiteren Zwangsmassnahme um einen einschneidenden Grundrechtseingriff handelt (Freiheitsbeschränkung oder gar Freiheitsentzug). Daher lehnt die DJS die geplante Anwesenheitspflicht ab. Falls die Anwesenheitspflicht in der Unterkunft dennoch eingeführt wird, soll eine sie höchstens in begründeten Einzelfällen als effektive Alternative zur Ausschaffungshaft und unter Wahrung der Verhältnismässigkeit angeordnet werden. Die DJS empfiehlt, dass die für den Eingriff nötigen Voraussetzungen auf Gesetzesstufe ergänzt und auf Verordnungsebene präzisiert werden.
Gemäss Vorlage soll bei Nichteinhaltung der Anwesenheitspflicht eine Ausschaffungshaft und Dublinhaft angeordnet werden können. Die DJS lehnt diese neuen Hafttatbestände ab. Die bisherigen Hafttatbestände reichen aus.
4. Erweiterung der Zugriffberechtigungen auf die Datenbanken ZEMIS und eRetour
Mit der geplanten Änderung sollen die Zugriffsberechtigungen auf die beiden Datenbanken «Zentrales Migrationsinformationssystem» (ZEMIS) und «Informationssystem für die Rückkehr» (eRetour) erweitert werden.
4.1 Zugriff für kantonale Justizvollzugsbehörden auf besonders schützenswerte Daten im ZEMIS
Mit der Vorlage soll die rechtliche Grundlage geschaffen werden, damit die kantonalen Justizvollzugsbehörden einschliesslich der Bewährungshilfe bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben auf besonders schützenswerte Daten im ZEMIS zugreifen können (Art. 9 Abs. 1 Bst. q und Abs. 2 Bst. m VE-BGIAA). Unter den Aufgabenbereich der kantonalen Justizvollzugsbehörden einschliesslich der Bewährungshilfe, d.h. den Vollzug von strafrechtlichen Urteilen, fallen gemäss EJPD[8] etwa der Vollzug von Urteilen und deren Auflagen, Vollzugslockerung, Überstellungen oder die Fallführung im Zusammenhang mit der Bewährungshilfe, mit der Sozialberatung im Gefängnis und mit der Benachrichtigung von Behörden über die Inhaftierung. Dies betreffe insbesondere die Daten aus dem Bereich der Zwangsmassnahmen sowie der Entfernungs- und Fernhaltemassnahmen. Ebenfalls müssten die Justizvollzugsbehörden Kenntnis davon haben, ob ein Medizinalfall vorliege. Anfragen zur Überprüfung der relevanten Daten sollen etwa bei jeder Vollzugslockerung (z. B. Urlaube, Versetzung oder bedingte Entlassung im Rahmen der jährlichen Überprüfung), bei internationalen Fällen, bei Überstellungen sowie während der Bewährungshilfe erfolgen.[9]
Auf nicht besonders schützenswerte Daten haben die Justizvollzugsbehörden bereits heute Zugriff, und zwar gestützt auf die Verordnung vom 12. April 2006 über das Zentrale Migrationsinformationssystem (sogenannte ZEMIS-Verordnung). Denn auf Antrag der Konferenz der Kantonalen Leitenden Justizvollzug (KKLJV) auf Einsichtnahme der Justizvollzugsbehörden in die Stammdaten von ZEMIS wurde die ZEMIS-Verordnung per 15. Juni 2023 angepasst. Für besonders schützenwerte Daten hingegen müssen die Justizvollzugsbehörden nach wie vor die kantonalen Migrationsbehörden mittels Amtshilfe um Auskunft ersuchen, was mit der Anpassung von Art. 9 BGIAA geändert werden soll.
Daraus ergibt sich folgende Übersicht:
Neu zugriffberechtigte Personen |
Betroffene Daten |
Art. 9 Abs. 1 Bst. q VE-BGIAA: kantonale Straf- und Massnahmenvollzugsbehörden für ihre Aufgaben im Rahmen des Vollzugs von strafrechtlichen Urteilen der kantonalen Strafgerichte und der Strafbehörden des Bundes |
Die vom SEM oder in seinem Auftrag im Informationssystem bearbeiteten Daten des Ausländerbereichs: · Anhang 1 der ZEMIS-Verordnung, VII. Übrige ZEMIS-Datenfelder, 2. Ausländerbereich, e. Zwangsmassnahmen; davon alle Datenfelder, d.h. die folgenden: o Haftart; o Haftbeginn; o Haftende; o Tage in Haft; o Rückführung (ja/nein); o Rechtsvertretung bei Minderjährigen (ja/nein); o Kindesschutzmassnahmen (ja/nein); o Ort der Inhaftierung; o Dauer der angeordneten Haft · Anhang 1, VII. Übrige ZEMIS-Datenfelder, 2. Ausländerbereich l. Entfernungs- und Fernhaltemassnahmen (Rückkehrentscheide nach Art. 68a Abs. 1, Bst. a, c und d AIG und Einreiseverbot nach Art. 67 AIG) eMAP; davon alle Datenfelder, d.h. die folgenden: o Zuständige Behörde; o Entscheid (Art); o Datum des Entscheids; o Verzicht auf die Anordnung einer obligatorischen Landesverweisung; o Grund (Rückkehrentscheid); o Nachfolgendes Einreiseverbot (ja/nein); o Gefahr für öffentliche Sicherheit und Ordnung (ja/nein); o Begangene Straftaten; o Besondere Merkmale; o Eröffnungsdatum / Inkrafttretensdatum; o Gültig ab und bis zum / Dauer; o Aufhebung; o Grund (Einreiseverbot); o Erwerbsart; o Antragsdatum; o Ausreisefrist; o Datum und Ort der Ausreise; o Staat, in den die Person zurückkehrt; o Kategorie der Ausreise; o Suspension / Sistierung / Aufschub; o Bemerkung gemäss Verfügung; o Gerichtsbehörde und Aktenzeichen des Urteils; o Familienmitglied einer Bürgerin oder eines Bürgers der EU/EFTA; o SIS Status; o Numerisierte Dokumente (Entscheide, Urteile usw.) |
Art. 9 Abs. 2 Bst. m VE-BGIAA: kantonale Straf- und Massnahmenvollzugsbehörden für ihre Aufgaben im Rahmen des Vollzugs von strafrechtlichen Urteilen der kantonalen Strafgerichte und der Strafbehörden des Bundes |
Die vom SEM oder in seinem Auftrag im Informationssystem bearbeiteten Daten des Asylbereichs: · Anhang 1, VII. Übrige ZEMIS-Datenfelder 3. Asylbereich c. Verfahren; einzig: o Medizinalfall (ja/nein) |
Den Erläuterungen ist nicht zu entnehmen, wie die Einzelheiten der geplanten Zugriffserweiterung auf ZEMIS (z.B. auf Verordnungsstufe) geregelt werden sollen
4.2 Zugriff für Mitarbeitende der DBAS, DDBAZ, DBZI, des Bundesverwaltungsgerichts sowie der schweizerischen Auslandvertretungen und Missionen auf eRetour
Mit der Vorlage sollen weitere Mitarbeitende der zuständigen Einheiten der Direktionsbereiche Asyl (DBAS) und Bundesasylzentren (DBBAZ) des SEM, die Mitarbeitenden der Abteilung Zulassung Aufenthalt des Direktionsbereichs Zuwanderung und Integration des SEM (DBZI), die Mitarbeitenden der zuständigen Abteilungen des Bundesverwaltungsgerichts (Abteilungen IV-VI) sowie die zuständigen Mitarbeitenden der schweizerischen Auslandvertretungen und Missionen Zugriff erhalten auf die benötigten Personendaten im eRetour des SEM, um den aktuellen Stand eines Rückkehrverfahrens einzusehen und innerhalb des Systems zu kommunizieren. Gemäss EJPD[10] sei der Zugriff auf diejenigen Daten beschränkt, die notwendig seien, um den aktuellen Stand eines Rückkehrverfahrens einzusehen und innerhalb des Systems zu kommunizieren. Somit würden alle Massnahmen und Aktivitäten zur Vorbereitung einer freiwilligen oder zwangsweisen Rückführung, einschliesslich der Interaktionen mit den beteiligten Akteur*innen, in der gleichen Applikation dokumentiert. So sei es etwa für DBAS und DBBAZ insbesondere bei Wiedererwägungsgesuchen, den Stand eines Rückkehrverfahrens zu kennen oder zu wissen, ob sich die Person in Haft befinde. Falls der Vollzug sistiert werden müsse, sei es wichtig, dass die Mitarbeitenden der Abteilung Rückkehr des SEM und die zuständigen kantonalen Behörden unmittelbar im eRetour informiert würden, damit zum Beispiel eine Flugbuchung rechtzeitig annulliert werden könne. Weiter sei es für die Mitarbeitenden der zuständigen Abteilungen des Bundesverwaltungsgerichts beispielsweise wichtig, die notwendigen Informationen zum Rückkehrbereich im Rahmen von Beschwerde-, Wiedererwägungs- oder Revisionsverfahren einsehen zu können.
Was insbesondere die Zugriffsrechte der Mitarbeitenden in den Auslandvertretungen und Missionen anbelangt, führt das EJPD[11] aus, dass die Abteilung Rückkehr des SEM die schweizerischen Vertretungen und Missionen in den Heimat-, Herkunfts- oder Drittstaaten um ihre Mitwirkung bei den Ermittlungen zur Identifizierung einer Person, bei der Abklärung der medizinischen Verhältnisse im Herkunftsstaat, bei der Vorbereitung einer begleiteten Zwangsrückführung mit Linien- oder Sonderflug oder bei der Auszahlung einer Rückkehrhilfe ersuche. Der Zugang zur Applikation ermögliche eine Überwachung der laufenden Mandate, eine direkte und transparente Kommunikation und eine vereinfachte Zusammenarbeit zwischen der Abteilung Rückkehr und den vom SEM entsandten Immigration Liaison Officers (ILO).
Das AIG enthält in Art. 109f ff. AIG Bestimmungen zur Datenbank eRetour. In Art. 109g AIG sind die Informationskategorien des eRetour aufgeführt, in Art. 109h AIG die zugriffsberechtigten Personen mit Nennung der Daten, auf die sich der Zugriff beschränkt.
Besonders schützenswerte Daten wie biometrische (Art. 109g Abs. 2 Bst. b AIG) oder medizinische Daten, die für die Beurteilung der Transportfähigkeit einer Person erforderlich sind (Art. 109g Abs. 2 Bst. h AIG), sind mangels expliziter Nennung in Art. 109 Bst. a Ziff. 3 und Bst. h und i VE-AIG vom vorgesehenen erweiterten Online-Zugriff ausgeschlossen.
Daraus ergibt sich folgende Übersicht:
Neu zugriffberechtigte Personen
|
Betroffene Daten |
Art. 109h Bst. h VE-AIG: SEM: · Mitarbeitende der zuständigen Einheiten der Direktionsbereiche Asyl (DBAS) und Bundesasylzentren (DBBAZ) · Mitarbeitende der Abteilung Zulassung Aufenthalt des Direktionsbereichs Zuwanderung und Integration (DBZI) |
Daten nach Art. 109g Abs. 2 Bst. a, c-g und j AIG: · Bst. a: den Namen und Vornamen, das Geburtsdatum und die Adresse (Grunddaten), das Geschlecht, den Geburtsort, die Staatsangehörigkeit, die Ethnie, die Religion, die Muttersprache und den Zivilstand der Ausländerin oder des Ausländers sowie den Namen der Eltern · Bst. c: den Teil des elektronischen Dossiers betreffend die Rückkehr nach Art. 4 Abs. 1 Bst. d BGIAA (Art. 4 Abs. 1 Bst. d BGIAA: ein Subsystem mit den Dossiers der Verfahren im Ausländer- und Asylbereich in elektronischer Form) · Bst. d: die Art der Wegweisung oder die freiwillige Rückkehr, das verwendete Reisedokument und die finanziellen Leistungen, die bei der Abreise ausbezahlt werden · Bst. e: die Daten betreffend die Rückkehrberatung und die Gewährung von Rückkehrhilfe · Bst. f: die Daten betreffend die Massnahmen zur Beschaffung von Reisedokumenten · Bst. g: die Daten, die für die Verwaltung und Kontrolle der verschiedenen Phasen der Ausreise aus der Schweiz erforderlich sind · Bst. i: Ort, Dauer und Art der Inhaftierung |
Art. 109h Bst. h VE-AIG: Bundesverwaltungsgericht: Mitarbeitende der Abteilungen IV-VI: · IV: zuständig für Geschäfte aus dem Gebiet des Asylrechts; · V: zuständig für Geschäfte aus dem Gebiet des Asylrechts; · V: Geschäfte aus den Rechtsgebieten Ausländer- und Bürgerrecht |
Daten nach Art. 109g Abs. 2 Bst. a und c-g AIG: · Bst. a: den Namen und Vornamen, das Geburtsdatum und die Adresse (Grunddaten), das Geschlecht, den Geburtsort, die Staatsangehörigkeit, die Ethnie, die Religion, die Muttersprache und den Zivilstand der Ausländerin oder des Ausländers sowie den Namen der Eltern · Bst. c: den Teil des elektronischen Dossiers betreffend die Rückkehr nach Art. 4 Abs. 1 Bst. d BGIAA (Art. 4 Abs. 1 Bst. d BGIAA: ein Subsystem mit den Dossiers der Verfahren im Ausländer- und Asylbereich in elektronischer Form) · Bst. d: die Art der Wegweisung oder die freiwillige Rückkehr, das verwendete Reisedokument und die finanziellen Leistungen, die bei der Abreise ausbezahlt werden · Bst. e: die Daten betreffend die Rückkehrberatung und die Gewährung von Rückkehrhilfe · Bst. f: die Daten betreffend die Massnahmen zur Beschaffung von Reisedokumenten · Bst. g: die Daten, die für die Verwaltung und Kontrolle der verschiedenen Phasen der Ausreise aus der Schweiz erforderlich sind |
Art. 109h Bst. i VE-AIG: Schweizerische Auslandvertretungen und Missionen: · zuständige Mitarbeitende der schweizerischen Auslandvertretungen und Missionen |
Daten nach Art. 109g Abs. 2 Bst. a und c-g AIG: · Bst. a: den Namen und Vornamen, das Geburtsdatum und die Adresse (Grunddaten), das Geschlecht, den Geburtsort, die Staatsangehörigkeit, die Ethnie, die Religion, die Muttersprache und den Zivilstand der Ausländerin oder des Ausländers sowie den Namen der Eltern · Bst. c: den Teil des elektronischen Dossiers betreffend die Rückkehr nach Art. 4 Abs. 1 Bst. d BGIAA (Art. 4 Abs. 1 Bst. d BGIAA: ein Subsystem mit den Dossiers der Verfahren im Ausländer- und Asylbereich in elektronischer Form) · Bst. d: die Art der Wegweisung oder die freiwillige Rückkehr, das verwendete Reisedokument und die finanziellen Leistungen, die bei der Abreise ausbezahlt werden · Bst. e: die Daten betreffend die Rückkehrberatung und die Gewährung von Rückkehrhilfe · Bst. f: die Daten betreffend die Massnahmen zur Beschaffung von Reisedokumenten · Bst. g: die Daten, die für die Verwaltung und Kontrolle der verschiedenen Phasen der Ausreise aus der Schweiz erforderlich sind |
Gemäss den Erläuterungen sollen die «berechtigten Organisationseinheiten» bzw. die «detaillierten Zugriffsrechte» auf Verordnungsstufe näher bezeichnet werden.[12] Die Unterlagen enthalten hierzu keine weiteren Einzelheite.
4.3 Heikle Zugriffserweiterung
Mit den geplanten Gesetzesanpassungen soll der Zugriff im ZEMIS auf besonders schützenswerte Daten und in eRetour auf einzelne Datenkategorien Mitarbeitenden der kantonalen Justizvollzugsbehörden bzw. diverser Organisationseinheiten des Bundes gewährt werden.
Selbstbedienungssystem für unbestimmte und unkontrollierbare Anzahl Personen
Das geplante Abrufverfahren («Online-Zugriff») für ZEMIS ist eine besondere Form der Datenbekanntgabe. Es handelt sich um ein automatisiertes Verfahren, bei welchem die datenempfangende Person Daten beschaffen kann, ohne dass das datenbesitzende Bundesorgan mitwirken muss bzw. den Datenbezug überhaupt bemerkt («Prinzip der Selbstbedienung»). Der Online-Zugriff nach dem Prinzip der Selbstbedienung kann zu einer besonders schwerwiegenden Beeinträchtigung der Grundrechte der betroffenen Person führen und muss in einem Gesetz im formellen Sinn vorgesehen sein, insbesondere, wenn besonders schützenswerte Personendaten betroffen sind.[13]
Gemäss Art. 13 Abs. 2 BV hat jede Person Anspruch auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten. Das Datenschutzgesetz (DSG) schreibt präzisierend vor, dass die Bearbeitung von Personendaten verhältnismässig sein muss (Art. 6 Abs. 2 DSG).[14] Bezugnehmend auf die Voraussetzung der Notwendigkeit der Verwaltungshandlung bestimmt Art. 6 Abs. 3 DSG, dass der Online-Zugriff auf jene Daten zu beschränken ist, die für die Bearbeitung einer Aufgabe erforderlich sind, und dass der Zweck der Datenbekanntgabe anzugeben ist. Dabei ist zu beachten, dass die Anforderungen an den Präzisionsgrad der nötigen gesetzlichen Bestimmung höher sind, wenn das Risiko einer Verletzung der Persönlichkeit oder der Grundrechte grösser ist.[15]
Es ist äusserst fraglich, ob bei diesem geplanten «Selbstbedienungssystem», mit dem zahlreichen zusätzlichen Personen Zugriff auf zum Teil sensible Daten gewährt wird, der verfassungsrechtliche Schutz vor Missbrauch der persönlichen Daten gewährleistet werden kann und ob der Grundsatz der Verhältnismässigkeit und die Vorgaben des DSG eingehalten sind. Konkret ist gestützt auf die vorliegenden Angaben zu bezweifeln, dass tatsächlich ausschliesslich Daten eingesehen werden, wenn diese notwendig sind für die Aufgabenerfüllung bzw. wie ein darüber hinaus gehender Zugriff ausgeschlossen werden kann. Insbesondere bei besonders schützenswerten Daten, d.h. dem in Art. 9 Abs. 1 Bst. q und Abs. 2 Bst. m VE-BGIAA geplanten erweiterten Zugriff auf das ZEMIS im Selbstbedienungssystem, ist die Gesetzesänderung daher als heikel zu werten und der Zugriff nur sehr zurückhaltend und auf das Nötigste reduziert zu gewähren. Der Vorlage ist nicht zu entnehmen, wie die Einzelheiten (auf Verordnungsstufe) geregelt werden sollen.
Auch in Bezug auf den erweiterten Zugriff auf eRetour wird mit der Gesetzesänderung zahlreichen Mitarbeitenden des Bundes Zugriff gewährt. Hinzu kommt hier der Aspekt, dass nicht nur das SEM als Teil der Exekutive, sondern auch das Bundesverwaltungsgericht als Judikative Einsicht erhält, u.a. in das Wegweisungsverfahren, die Einzelheiten der Rückkehr wie finanzielle Unterstützung etc. Daher stellt sich hier – nebst datenschutzrechtlichen Überlegungen – die Frage, inwiefern ein Zugriff des Gerichts auf Daten der Verwaltung konform ist mit dem Prinzip der Gewaltenteilung.
Dass ein sehr zurückhaltender Umgang mit Daten und ein entsprechend enger und kontrollierbarer Kreis von zugriffsberechtigten Personen wichtig ist, v.a. in diesem sensiblen Bereich, zeigen aktuelle Beispiele[16]. Die Erklärung in den Unterlagen, dass «alle Daten für die Erfüllung der Aufgaben der genannten Behörden erforderlich sind», genügt den hohen Anforderungen an den Präzisionsgrad der gesetzlichen Bestimmung nicht. Der Verweis auf eine Regelung auf Verordnungsstufe lässt zu viel Spielraum offen und ist zu wenig griffig gegen potenziellen Datenmissbrauch.
Unverhältnismässige Zugriffserweiterungen
Hinzu kommt, dass die betroffenen Behörden, d.h. die kantonalen Justizvollzugsbehörden einerseits und die verschiedenen Mitarbeitenden des SEM, des Bundesverwaltungsgerichts sowie der Auslandvertretungen und Missionen andererseits, bereits heute die für sie nötigen Informationen aus dem ZEMIS und eRetour erhalten. Gemäss erläuterndem Bericht erfolgt die Informationsbeschaffung bisher im Rahmen der Amtshilfe, was jedoch zeit- und ressourcenaufwändig ist.
Es stellt sich daher die Frage, ob der Grundrechtseingriff, welcher mit der Erweiterung der Zugriffsrechte (zumindest bezüglich der besonders schützenswerten Daten) verbunden ist, nötig und damit verhältnismässig ist. Unter dem Punkt der Verhältnismässigkeit im engeren Sinn gilt es, eine vorsichtige Abwägung zwischen (insbesondere sensiblen) Daten bzw. Datenschutz und der gewonnen Effizienz in den bisherigen Abläufen vorzunehmen. Dabei entsteht der Eindruck, dass mit der Vorlage «auf Vorrat» grosszügig Zugriff gewährt wird für verschiedenste zuständige Mitarbeitende der kantonalen Strafvollzugsbehörden bzw. in den verschiedensten Organisationseinheiten des Bundes, sei dies in der Schweiz oder in den verschiedenen Auslandvertretungen.
Das Argument allein, dass der erweiterte Zugriff etwa für die kantonalen Justizvollzugsbehörden einschliesslich der Bewährungshilfe «eine einfache, effiziente und zentrale Datensuche ermöglicht»[17] und die kantonalen Migrationsbehörden von den Ersuchen um Amtshilfe entlastet würden oder etwa vor dem Bundesverwaltungsgericht zu einer «Vereinfachung der Arbeitsprozesse und damit einer Beschleunigung der Beschwerdeverfahren» beitrage[18], greift mit Blick auf die verfassungsrechtlichen und datenschutzrechtlichen Vorgaben zu kurz. Lediglich zur Erleichterung der behördlichen Aufgaben darf nicht eine Schnittstelle zwischen den verschiedenen Einheiten geschaffen und die Zugriffe undifferenziert erteilt werden; die Interessen der betroffenen Person (Schutz vor Missbrauch der eigenen Daten, Schutz der Privatsphäre) zum Interesse des Staates an effizienteren Abläufen stehen in einem Missverhältnis.
Darüber hinaus sollen aus Sicht der DJS nur Regelungen eingeführt werden, die vom Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten (EDÖB) geprüft, beurteilt und gutgeheissen wurden. Ob dies vorliegend der Fall ist, ist den Vernehmlassungsunterlagen nicht zu entnehmen.
4.4 Heikler Datenzugriff aus dem Ausland
Aus Sicht der DJS ist angesichts der vorangehenden Ausführungen insbesondere der geplante Datenzugriff von Auslandvertretungen und Missionen auf eRetour als äusserst heikel zu werten. Denn in dieser Konstellation kann auf die Daten aus dem Ausland zugegriffen werden, konkret aus dem Heimatland, wohin eine ehemalig asylsuchende Person zurückgeführt werden soll. Es erschliesst sich aus den Informationen zur Gesetzesvorlage nicht, welche Mitarbeitenden der Auslandvertretungen und Missionen unter welchen Bedingungen, wie lange etc. effektiv Einsicht in die umfangreichen Daten erhalten. Im erläuternden Bericht wird lediglich darauf verwiesen, dass die berechtigten Organisationseinheiten bzw. die detaillierten Zugriffsrechte auf Verordnungsstufe geregelt werden. Hier gilt es zwingend zu verhindern, dass heimatliche Behörden oder andere unbefugte Drittpersonen Einblick erhalten in Daten von Personen, welche im Ausland ein Asylgesuch gestellt haben und nun ins Heimatland zurückgeführt werden. Da auch Zwangsrückführungen darunterfallen, darf einen solchen Zugriff aus dem Ausland nicht möglich sein, da dieser mit zu vielen Risiken für die betroffene Person einhergeht.
5. Weitergabe medizinischer Daten zur Beurteilung der Transportfähigkeit
Die Weitergabe medizinischer Daten zur Beurteilung der Transportfähigkeit soll von Entscheiden betreffend Weg- oder Ausweisung (bereits in Kraft seit 1. Januar 2018) auf den Vollzug von rechtskräftigen Landesverweise ausgedehnt werden. Dementsprechend soll Art. 71b AIG ergänzt werden mit «oder die Landesverweisung nach Artikel 66a oder 66abis StGB oder Artikel 49a oder 49abis MStG». Gemäss EJPD[19] werden in der Praxis bis zur geplanten Gesetzesanpassung die Vorgaben zur Beurteilung der Transportfähigkeit bei Weg- und Ausweisungen analog auf den Landesverweis angewendet. Zudem sollen die Informationen ausschliesslich von Ärzt*in zu Äzrt*in weitergegeben werden und nicht mehr wie bisher unter «medizinischen Fachpersonen». Somit müssen sich die behandelnden Ärzt*innen bei der Weitergabe des medizinischen Dossiers (bei geplanten Landesverweis) nicht mehr durch die Patientin bzw. den Patienten oder aber die zuständige Stelle von ihrer Schweigepflicht entbinden lassen, ohne sich durch die Weitergabe der Informationen strafbar zu machen.
Zunächst handelt es sich bei der geplanten Erweiterung der Auskunftspflicht für die Ärzt*innenschaft bei Landesverweisen um eine relativ gewichtige Änderung und nicht um eine unbedeutende Anpassung, wie die Nennung am Schluss der geplanten Änderungen sowie unter «formelle und redaktionelle Änderungen» vermuten liesse.[20] Für die Ärzteschaft wird neu eine Auskunftspflicht bezüglich Informationen im Zusammenhang mit der Transportierfähigkeit bei rechtskräftigem Landesverweis geschaffen. Da es sich regelmässig um besonders schützenwerte Daten handelt und somit die persönliche Integrität und vor allem der Schutz vor Missbrauch der eigenen Daten betroffen sind, sind die Voraussetzungen an eine solche Auskunftspflicht hoch und generell Zurückhaltung angebracht. Der Hinweis darauf, dass in der Praxis bereits heute die Vorgaben zur Beurteilung der Transportfähigkeit bei Weg- und Ausweisungen analog auf die Landesverweisungen angewendet werden, überzeugt nicht; vielmehr sollte entsprechend dem Legalitätsprinzip zunächst die gesetzliche Grundlage geschaffen und erst gestützt darauf das Verwaltungshandeln angepasst werden.
Im Weiteren liegt das Ziel dieser Gesetzesanpassung darin, Art. 71b AIG den Regeln in der Verordnung über den Vollzug der Weg- und Ausweisung sowie der Landesverweisung von ausländischen Personen (VVWAL) anzupassen, indem der Anwendungsbereich von Weg- und Ausweisungen auch auf den Landesverweis ausgedehnt wird.[21] Daher müssten konsequenterweise auch die massgebenden Bestimmungen in der VVWAL zur Transportierfähigkeit den Begriff «Landesverweisung» enthalten (namentlich Art. 15p, 15q und 15s VVWAL); so ist denn in den andern Bestimmungen der VVWAL immer die Rede von «Weg- oder Ausweisung oder eine Landesverweisung». Es stellt sich daher die Frage, warum diese Formulierungen in der VVWAL nicht auch angepasst werden.
6. Ausweitung des Einreiseverbotes
Art. 67 Abs. 1 VE-AIG sieht vor, dass das bestehende Einreiseverbot nicht nur für «weggewiesene», sondern allgemein für Ausländer*innen gilt, indem der Zusatz «weggewiesene» gestrichen wird. Gemäss EJPD[22] entspreche die Beschränkung auf ausschliesslich weggewiesene Personen nicht der Praxis, da Einreiseverbote auch gegenüber Personen erforderlich sein könnten (um insbesondere deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem SIS zu ermöglichen), die sich nicht in der Schweiz aufhielten und daher nicht weggewiesen werden müssten. Diese unbeabsichtigte Beschränkung solle rückgängig gemacht werden.
Uneingeschränkter Zugang zum Asylverfahren
Die DJS wiederholt in diesem Zusammenhang die Forderung, dass alle Personen jederzeit und uneingeschränkt die Möglichkeit haben müssen, um Schutz zu ersuchen und sodann Zugang zum Asylverfahren erhalten. Dieser uneingeschränkte Zugang zum Asylverfahren muss auch an den Landesgrenzen und bei allfälliger Umsetzung der geplanten Gesetzesänderung gewährt werden.
[1] Erläuternder Bericht des EJPD vom 15.12.2023, Ziff. 3.1.4, S. 9.
[2] Vgl. zur Unterscheidung zwischen Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentzug etwa Schweizerisches Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR), «Freiheitsentzug und Freiheitsbeschränkung bei ausländischen Staatsangehörigen, Dargestellt am Beispiel der Unterbringung von Asylsuchenden in der Schweiz» vom 21.08.2017, S. 2 f. und 40 f., je m.w.H. Demnach ist die Abgrenzung zwischen Freiheitsbeschränkung und Freiheitsentzug gradueller Natur und abhängig vom konkreten Einzelfall. Ausgangspunkt der Beurteilung bildet gemäss Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte und Bundesgericht die Kombination von zeitlicher und räumlicher Dimension: Je beengter und haftähnlicher der erzwungene Aufenthaltsort ist, desto kürzer kann die Dauer eines Eingriffs sein, damit dieser als Freiheitsentzug gilt. Unter Freiheitsentzug fallen «Massnahmen der staatlichen Gewalt, durch die jemand gegen seinen Willen an einem bestimmten, begrenzten Ort für eine gewisse Dauer festgehalten wird». Der Begriff Freiheitsentzug ist weit zu verstehen. So gilt etwa ein mehrstündiger Einschluss in einer Zelle bereits als Freiheitsentzug bzw. Haft oder aber auch der Aufenthalt in einer Asylunterkunft bei regelmässiger oder mehrtägiger Verweigerung des Ausgangs. Wird die Bewegungsfreiheit zeitlich oder örtlich weniger stark eingeschränkt, kann hingegen eine Freiheitsbeschränkung vorliegen.
[3] SKMR, «Freiheitsentzug und Freiheitsbeschränkung bei ausländischen Staatsangehörigen, Dargestellt am Beispiel der Unterbringung von Asylsuchenden in der Schweiz», S. 13-17 und 45 f.
[4] Erläuternder Bericht, Ziff. 3.1.4, S. 9.
[5] Siehe oben, Ziff. 6.2.2.
[6] Ebenso wenig würde dies genügen als Haftgrund, vgl. etwa Urteil des Bundesgerichts 2C_142/2013 vom 01.03.2013, E. 4.2.
[7] Erläuternder Bericht, Ziff. 3.1.4, S. 9.
[8] Erläuternder Bericht, Ziff. 3.1.5, S. 10 und Ziff. 4 ad «Art. 9 Abs. 1 Bst. q Abs. 2 Bst. m», S. 17.
[9] Für weitere Beispiele, in welchen Situationen und bei welchen Personen der Zugriff erfolgen soll, siehe erläuternder Bericht, Ziff. 4 ad «Art. 9 Abs. 1 Bst. q Abs. 2 Bst. m», S. 17.
[10] Erläuternder Bericht, Ziff. 3.1.5, S. 10 und Ziff. 4 ad «Art. 109h Bst. a Ziff. 3 und h und i», S. 16.
[11] Erläuternder Bericht, Ziff. 4 ad «Art. 109h Bst. a Ziff. 3 und h und i», S. 16; vgl. zudem allgemeine Ausführungen des SEM betr. ILO, welche zwecks Umsetzung der schweizerischen Migrationsaussenpolitik etwa Informationen beschaffen oder dank ihrem Netzwerk und Länderkenntnisse die Durchführung der (freiwilligen oder zwangsweisen) Rückkehr in das Heimatland erleichtern können.
[12] Erläuternder Bericht, Ziff. 3.1.5, S. 10 und Ziff. 4 ad «Art. 109h Bst. a Ziff. 3 und h und i», S. 16.
[13] Bundesamt für Justiz (BJ), Totalrevision des Datenschutzgesetzes (DSG), Übersicht zu den wichtigsten Änderungen für die Erarbeitung der Rechtsgrundlagen betreffend Datenbearbeitungen durch Bundesorgane, Oktober 2020, S. 24; BJ, Gesetzgebungsleitfaden, 2023, 4. Aufl., S. 225.
[14] Zu den Voraussetzungen für staatliche Grundrechtseingriffe (Art. 36 BV), siehe oben Ziff. 6.2.2.
[15] Siehe hierzu auch erläuternder Bericht, Ziff. 6.7, S. 18 f.
[16] Siehe etwa Artikel in der Berner Zeitung zu den Vorkommnissen im Migrationsamt Biel «Patrouillendienst kann problemlos heikle Daten einsehen» vom 24.01.2024.
[17] Erläuternder Bericht, Ziff. 3.1.5, S. 10.
[18] Ibid., Ziff. 4 ad «Art. 109h Bst. a Ziff. 3 und h und i», S. 16.
[19] Erläuternder Bericht, Ziff. 3.1.6, S. 10 f.
[20] Erläuternder Bericht, Übersicht, S. 2. Unter Ziff. 1.1.6, S. 4, wird die Änderung banalisierend beschrieben als inhaltliche und redaktionelle Unstimmigkeiten zwischen AIG und VVWAL, die behoben werden sollen und unter Ziff. 3.1.6, S. 11, als «Präzisierung auf Gesetzesstufe» bezeichnet.